: Schwalben kreisen hoch
■ „Haiku“ – ein Stück über Frauen und über Autismus
Planmäßig wurde sie zur Winterszeit geboren, zur Nacht. Doch damit hatte die Ordnung bereits ein Ende: Louise war eine problematische Geburt, eine Steißgeburt. „Es war, als wolltest Du nur rückwärts auf die Welt kommen“, sinniert Nell, die Mutter. Ihre Tochter sitzt neben ihr, Mitte zwanzig vielleicht. Sie trägt einen Helm auf dem zuckenden Kopf, schaukelt sich langsam vor und zurück und verdreht hin und wieder die Augen. Der einzige Farbtupfer im hellen, fast schon sterilen Bühnenbild – zwei Stühle, ein Tisch sowie eine Bahn heller Seide, aufgehängt und von hinten als Fenster beleuchtet – ist Louises kurze rote Strickjacke. Sie schnürt die Brust ein, erinnert an eine Zwangsjacke.
Tatsächlich ist Louise, zärtlich Lulu genannt, gefangen – in sich selbst. Sie ist Autistin. Seitdem sie bestimmte Medikamente bekommt, gelingt ihr jedoch gelegentlich der Ausbruch aus ihrem Körperkerker. Stimuliert durch Erzählungen ihrer schreibenden Mutter formuliert sie „Haikus“, japanische Dreizeiler mit jeweils 17 Silben, die sich thematisch stets um Natur und Jahreszeiten drehen. Dieses Talent hat die Mutter erkannt, sie notiert die Gedichte ihrer Tochter und veröffentlicht sie als Buch unter ihrem eigenen Namen. Denn: Wer würde diese Gedichte schon einem kommunikationsgestörten „Wesen“ zutrauen?
„Die menschen sind unberechenbar und aparte ungeheuer / infantil finde ich die vorstellung innerlich seien wir autisten buschmenschen und totalchaoten“, kritisiert Birger Sellin, Autist und Autor von „Ich will kein inmich mehr sein“, Außenstehende aus eigener Erfahrung. So bleibt im Stück der amerikanischen Autorin Katherine Snodgrass die wahre Haiku- Dichterin unbekannt – und wäre es auch geblieben, wenn nicht die Mutter zunehmend erblindete. Sie braucht die Hilfe der älteren Tochter Billie, einer erfolgreichen Geschäftsfrau, die vom Talent der Schwester keine Ahnung hat. Als die Mutter schließlich ihr Geheimnis preisgibt, zweifelt Billie. Sie übernimmt als literarische Figur die Rolle der ungläubigen und unbeholfenen, weil mit dem Phänomen des Autismus unvertrauten Öffentlichkeit.
Natürlich endet das Stück aufklärerisch korrekt. Billie erlebt nach langen, vergeblichen Bemühungen die Entstehung eines Haikus: „Abendlicher Herbst./ Holzrauch kräuselt sich empor./ Schwalben kreisen hoch.“ Zu dritt basteln die Frauen ein weiteres, zu dritt nur sind sie eine Einheit, gemeinsam können sie es schaffen.
So betörend einfach ist die Botschaft, genauso verhalten, ruhig und beschaulich die Inszenierung. Erkennbar ist die Intention, die Klarheit japanischer Haiku-Kunst auf die Bühne zu transportieren. Keine gekünstelte Regiespinnerei trägt hier über den Text hinaus. Angenehm vorsichtig und zurückhaltend ist die Figur der Autistin Louise (Heike Dopichaj) gezeichnet. Nur einmal fällt sie in eine autistische Raserei, kurz und kreisend, nicht irr, nicht verletzend, nicht aggressiv.
Das alles ist angesichts des schwierigen und sensiblen Stoffes sehr ehrenhaft, manchmal jedoch zu pädagogisch. Fragmentarisch erspüren kurze, in Rotlicht getauchte Rückblenden die Beziehungen der Frauen zueinander, unbefriedigend rätselhaft bleibt allerdings der Beginn von Louises Autistinnendaseins. Zwar gibt es bis heute keine zufriedenstellende wissenschaftliche Analyse über Autismus, Birger Sellins Buch vermittelt da jedoch einen weit besseren Einblick in die einsame Hölle als dieses Stück.
So sanft der Text hier einsichtigerweise angefaßt wurde, zumindest in der Arbeit mit den Schauspielerinnen hätte sich Regisseur Jörg Andrees einige Freiheiten zutrauen sollen. Körperarbeit beispielsweise ist kaum zu beobachten. Zu steif ist vor allem Miriam Platzek als Billie, die, eingezwängt in ein modisches, hochgeschlitztes Leinenkostüm, verklemmt agiert. So gefällig ein solches Outfit in einer Bar sein mag, so abstoßend ist es, wenn es eine Schauspielerin behindert und die Bühnendarstellung insgesamt zur Gefälligkeit verdonnert. Petra Brändle
„Haiku“ von Katherine Snodgrass; noch bis 18.7., Fr-Mo, 20.30 Uhr, theaterforum kreuzberg, Eisenbahnstraße 21.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen