Große Gefühle

Jim Grimsley erfindet den schwulen Südstaatenroman  ■ Von Rolf Spinnler

Familie kann so schön sein: ein Ort, wo Liebe und Vertrauen herrschen, Treue, Geborgenheit, Harmonie und himmlischer Frieden.

Familie kann so schrecklich sein: ein Ort, wo Haß und Streit toben, Verrat, Angst, Gewalt und alle Schrecken der Hölle.

Und in aller Regel ist sie beides zugleich: der Schauplatz der ersten Liebe und der ersten Enttäuschung; der Ursprung unserer Verletzungen und Beschädigungen und die Quelle der Kraft, es mit den Widrigkeiten des Lebens aufzunehmen.

Seit hundert Jahren schreiben die Schriftsteller nun schon vom Verfall der Familie – und kommen doch nicht los von ihr. Hanno Buddenbrook zieht im Familienbuch einen dicken Strich unter seinen Namen: Er hat genug, steigt aus und zerreißt die Kette der Generationen. Und gewitzte Thomas- Mann-Philologen wissen inzwischen auch, warum: Der Junge ist schwul – klar, daß er da nicht heiraten will. Aber gibt es tatsächlich nur das harte Entweder-Oder? Hier der endlose Kreislauf des Zeugens und Gebärens: Söhne, die zu Vätern werden, um wieder Kinder in die Welt zu setzen – dort der einsame Junggeselle, der keine andere Zukunft vor sich hat als den Tod. Das klingt sehr tragisch – und sehr deutsch. In der amerikanischen Kultur dagegen – so behauptet jedenfalls der Literaturkritiker Harold Bloom – herrscht nicht die harte dialektische Antithese, sondern die Abweichung, das Verfahren der „Revision“. Ein überliefertes Modell wird nicht – mit dem Gestus der nihilistischen Revolte – blindwütig zerstört; es wird vielmehr neu gedeutet, uminterpretiert, „revidiert“.

Wie könnte eine Beziehung zweier schwuler Männer aussehen, die das traditionelle Modell der Familie nicht übernimmt und doch auch etwas von seinem emotionalen Gehalt, seinem Glücksversprechen rettet? Darum geht es in Jim Grimsleys Südstaaten-Trilogie, von der mit „Wintervögel“ und „Das Leben zwischen den Sternen“ inzwischen zwei Bände vorliegen.

„Warum müssen wir uns denn verheiratet nennen? Wir sind zwei Männer. Können wir uns nicht irgendein anderes Wort einfallen lassen? Meine Eltern waren verheiratet. Deine Eltern sind verheiratet. Soll unsere Beziehung so werden?“ Darüber streiten sich Dan Crell und Ford McKinney, kaum daß sie zusammengezogen sind. Und es ist noch ein weiter Weg bis zu jenem Weihnachtsgeschenk, das Dan seinem Geliebten zögernd an die Hand steckt – eine Art Ehering: „Nicht aus blindem Vertrauen in die Geste der anderen, derjenigen, die heirateten. Sondern als ihr eigenes Zeichen, neu erfunden wie ihre Verbindung selbst gegen Hindernisse und Widersprüche.“

Kitsch! werden jetzt die Linienrichter des Zeitgeistes rufen und sich degoutiert von soviel Pathos und Mangel an urbaner Ironie abwenden. Aber ihr Insistieren auf impassibilité und coolness ist naiv. Wer große Gefühle sofort als reaktionär verdächtigt und rechts liegen läßt, braucht sich nicht zu wundern, wenn sich Unberufene ihrer bemächtigen. Es sind ja gerade die großen Leidenschaften, die den Süden – auch in Europa – für die kühlen Calvinisten der gemäßigten Zonen so verlockend machen. Die amerikanischen Südstaaten waren einmal die Verlierer im Bürgerkrieg, besiegt von der ökonomisch und technisch „fortgeschritteneren“ Zivilisation des Nordens. Aber wie so oft geht von den Unterlegenen im nachhinein eine geheime Faszination aus und umgibt sie mit der melancholischen Würde der Verlierer. Von dieser poetischen Aura zehrt die Literatur des amerikanischen Südens.

Aura – das meint freilich keine heile Welt. Im Gegenteil: In „Wintervögel“ erzählt Jim Grimsley von einer Kindheit auf dem Lande in North Carolina, die alles andere als idyllisch ist. Wir lernen Dan Crell als achtjährigen Danny kennen, an einem Novembertag irgendwann in den sechziger Jahren. Thanksgiving wird gefeiert. Aber eigentlich würde Danny am liebsten von seiner Familie weglaufen, ausreißen zu jenem „Mann im Fluß“, dem er sich in seinen Tagträumen hingibt. Denn zu Hause, das spürt er, liegt Streit in der Luft, Streit zwischen seinen Eltern. Und mit dieser Vorahnung soll er recht behalten. Der Vater, ein einfacher Gelegenheitsarbeiter, ist wieder einmal betrunken. Es fängt mit kleinen Wortgeplänkeln an und steigert sich immer mehr bis zur Raserei. Der Vater hat ein Messer – und Sohn Danny ist Bluter ...

Jim Grimsley, 1955 in North Carolina geboren, lebt heute in Atlanta/Georgia. Als Hausautor des dortigen Theaters „Seven Stages“ hat er bisher elf Theaterstücke sowie zahlreiche Kurzgeschichten geschrieben, von denen einige preisgekrönt wurden. Dem erfahrenen Dramatiker begegnet man in seinem ersten Roman wieder: in den knappen, präzisen Dialogen; in der geradezu aristotelischen Einheit von Ort und Zeit (genau vom Mittag bis zum nächsten Morgen); in der behutsamen Steigerung der Handlung bis zu ihrer Peripetie.

Der Roman will noch einmal den Kinderblick auf die Welt richten, für den alles neu und unschuldig ist – darin liegt sein Zauber. Aber zugleich verhilft jenes Erntedankfest dem achtjährigen Jungen auch zu einer Erfahrung und Erkenntnis, die bezahlt werden muß: mit dem Verlust kindlicher Naivität. Nach jener schicksalhaften Nacht weiß er, daß er nur überleben wird, wenn er den Tatsachen des Lebens ins Auge sieht. Die Kraft dafür gibt ihm das Vorbild seiner Mutter, die trotz aller Widrigkeiten und Demütigungen versucht, ihre fünf Kinder über die Runden zu bringen.

Natürlich könnte man hier in die Trickkiste der Psychoanalyse greifen und die altbekannten Begriffe „Urszene“, „Inzest“ oder „Kastration“ hervorzaubern. Aber die passen eher zur analytisch-rationalen Mentalität des „Nordens“ und seiner großstädtischen Intelligenz. Der „Süden“ denkt lieber in mythischen und religiösen Bildern, wie sie uns aus der Kultur Lateinamerikas, der Karibik oder des Mittelmeerraums vertraut sind. Vage Anspielungen auf die biblische Erzählung von Isaaks Opferung geben auch Grimsleys Kindergeschichte eine mythisch-rituelle Dimension: „Wintervögel“ ist auch die Geschichte einer Initiation, an deren Ende die prekäre Balance von verlorenen Illusionen und geretteten Hoffnungen steht.

Ja, und dann steht er – zwanzig Jahre später – tatsächlich da, der Märchenprinz, der Mann aus Dannys kindlichen Träumen. Ford McKinney sieht blendend aus, hat gute Manieren und stammt aus bester Südstaatenfamilie – ein Gentleman wie aus Margaret Mitchells „Vom Winde verweht“. Aber kann eine solche Beziehung von Dauer sein bei der so gegensätzlichen Herkunft der beiden Männer – hier der verwöhnte Sohn aus einer traditionsbewußten Arztfamilie, dort der Aufsteiger mit seiner subproletarischen Vergangenheit?

„Das Leben zwischen den Sternen“ bricht also mit allen Klischees des amerikanischen Schwulenromans: Keine schnauzbärtigen Ledermänner aus den Bars von San Francisco treten auf, keine Yuppies aus dem New Yorker Bankermilieu und keine Bohemiens aus der Künstlerszene von Greenwich Village. Erzählt wird vielmehr eine ganz unspektakuläre schwule Liebesgeschichte, bei der es nicht um reißerische Effekte und locker- mondänen Lebensstil, sondern um Gefühle und Empfindlichkeit, um Verletzungen und Vertrauen geht.

Probleme gibt es genug. Dan, der Bluter, hat sich bei einer Transfusion mit dem HIV-Virus infiziert. Ford dagegen, der junge Kinderarzt, hat gegenüber Eltern und Kollegen noch mit seinem Coming-out zu kämpfen. Bevor er Dan kennenlernte, war er pro forma stets mit einem Mädchen liiert – was ihn nicht daran hinderte, aus dem Fitneßstudio regelmäßig irgendwelche Jungs abzuschleppen, die unter der Dusche seinen schönen Körper anhimmelten. Auch in diesem zweiten Roman hat Grimsley – mit zahlreichen eingebauten Rückblenden – die Handlung auf den Zeitraum von wenigen Tagen konzentriert. Diesmal spielt sie an Weihnachten, dem Fest der Liebe, das Dan und Ford zum ersten Mal gemeinsam verbringen – Dans Mutter hat die beiden zu sich eingeladen ...

Jim Grimsleys Bücher zeigen ein anderes Amerika. Sieht man einmal von Tony Fennellys Matty- Sinclair-Trilogie ab, jenen Kriminalromanen um einen homosexuellen Privatdetektiv in New Orleans, dann hat der Autor aus Atlanta ein neues Genre geschaffen: den schwulen Südstaatenroman. Mark Twains heroische Flußlandschaften und skurrile Provinzler, Tennessee Williams' brutale Machos und leidende Heroinen, Margaret Mitchells Herrenhaussagas und Cormac McCarthys Balladen von den Verlierern des amerikanischen Traums – das sind die literarischen Modelle, denen er durch das homosexuelle Thema eine neue, unverwechselbare Note hinzugefügt hat. Durch und durch amerikanisch ist freilich die optimistische Grundstimmung von Grimsleys Büchern: die Überwindung aller Anfälle von Melancholie und Verzweiflung durch die verhaltene Zuversicht, es werde alles, alles gut. Und der Autor hat auch schon durchblicken lassen, daß sich daran auch im dritten Teil (mit dem Arbeitstitel „Good Cologne“) nichts ändern wird.

Jim Grimsley: „Wintervögel“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Thomas Brovot und Frank Heibert. Edition diá, Berlin 1992, 192 Seiten, 32 DM

„Das Leben zwischen den Sternen“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Edition diá, Berlin 1993, 260 Seiten, 38 DM