■ Der kolumbianische Eigentorschütze wurde ermordet
: Letzte Gewißheit

Zwölf Kugeln auf einen Fußballspieler. Ein Eigentor hatte der Andrés Escobar geschossen und damit die USA mit 1:0 in Führung gebracht. Mit Aspirationen auf den Titel waren die Kolumbianer losgefahren, nach der Vorrunde mußten sie wieder nach Hause.

Dort wartete eine enttäuschte Nation. Eine Nation zudem, wo der Fußball durch das Sponsoring der Drogenkartelle groß geworden war und in der Gewalt seit Jahrzehnten an der Tagesordnung ist. Etwa 24.000 Menschen wurden im vergangenen Jahr in Kolumbien ermordet. Andrés Escobar ist einer mehr. Da ist die politische Gewalt – der nach Angaben von amnesty international in den letzten acht Jahren mehr als 20.000 Menschen zum Opfer fielen, die meisten durch Armee und Polizei. Da gibt es versprengte Guerillagruppen, die mit wenig Chancen auf den revolutionären Erfolg die Gegengewalt pflegen. Dem scheidenden Präsidenten Gaviria wird Mitschuld an unzähligen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Der neue Präsident Samper steht schon vor seinem ersten Tag im Amt stark unter Verdacht, Verbindungen zum Drogenkartell von Cali zu unterhalten. Die politische und die wirtschaftliche Elite Kolumbiens sind mit der Gewalt eng verbunden. Und wo die, die „es geschafft haben“, ihren Reichtum auf Mord aufbauen, wo Drogenboß Pablo Escobar das Vorbild und der Ziehvater Tausender Jugendlicher war, da überträgt sich die Gewalt in die gesamte Gesellschaft, wird zur strukturellen Grundlage jeglicher Auseinandersetzung, zum Ausdrucksmittel jeglicher Emotion, von Wut und Freude gleichermaßen – schon in der Qualifikation zur Fußball-WM, als Kolumbien in Buenos Aires Argentinien mit 5:0 besiegte, starben bei Feiern in Bogotá mehrere Dutzend Menschen.

Der gesellschaftliche Ordnungsrahmen, die Anerkennung allgemeingültiger Spielregeln ziviler Konfliktlösung, ist in Auflösung begriffen. Der Staat beweist täglich, wie sehr seine Repräsentanten nicht den gesellschaftlichen Zielvorgaben, sondern dem individuellen Interesse verpflichtet sind – und gibt im Rahmen marktwirtschaftlicher Anpassung auch noch die wenigen sozialen Regulierungsaufgaben auf, die ihn als Klammer für die Gesellschaft qualifizierten.

So bleibt als identifikatorischer Faktor aller nur das Nationale. Und in dieser Situation wird ein Eigentor, das Ausscheiden aus einer Fußballweltmeisterschaft zur Katastrophe. Die Gesellschaft reagiert, wie sie es gewohnt ist: „Das ist für das Eigentor!“ riefen die Mörder von Andrés Escobar. Und lösten damit Entsetzen aus bei allen, die nicht geglaubt hatten, daß es schon so weit gekommen ist. Die Spirale dreht sich weiter, die Gewalt reproduziert sich selbst. Denn wo alles unsicher geworden ist, da bleibt eine Gewißheit: Wen ich erschieße, der ist tot. Bernd Pickert