„Fassen Sie ihn ruhig an!“

■ Beim Treff der ehemaligen Frühchen tummelten sich auch Pummelchen

Gratuliert hat den Eltern Skusa erstmal keiner zur Geburt ihres Sohnes Christian. Der wog ja auch nur 650 Gramm, als er geboren wurde. Damit war er das kleinste „Frühchen“, das je in der Kinderklinik Links der Weser hochgepäppelt wurde. Auch die Eltern brachten die Geburtsanzeige erst, als ihnen das Kind nachhause mitgegeben wurde. Dabei hatten ihnen die Schwestern von Anfang an gesagt: „Der Christan ist 'ne Kämpfernatur. Wenn sie den sehen würden, wie der uns die Scheibe vollpinkelt, so gut geht es ihm.“ Doch als Doris Skusa ihr Kind eine Woche nach der Entbindung zum ersten Mal sah, brach sie in Tränen aus. „Fassen Sie ihn ruhig an“, sagte die Schwester. Nur wo? All die Schläuche, die zarte Haut ...

Gestern trafen sich im Garten des Krankenhauses Links der Weser ehemalige Frühchen und ihre Eltern mit Schwestern und ÄrztInnen. Viele rundliche Wonneproppen, aber auch schmale Kinder tobten herum. Auch Christian, heute fünf, ist kleiner als andere Fünfjährige. Das mag er nicht hören: „Ihr seid auch klein“, sagt er zu anderen. Die Größe wird er noch aufholen, so wie er in den ersten Lebensmonaten bei der Krankengymnastin gelernt hat, den schweren Kopf zu heben, so wie er mit zweieinhalb dann doch das Laufen gelernt hat.

Manch anderes Kind trägt mehr Schäden davon: 10 bis 20 Prozent der Unter-1.000-Gramm-Frühchen ist behindert, meist in der Bewegungskoordination. Häufig haben Frühgeborene Augenprobleme, das kann bis zur Erblindung gehen. “Aber die meisten sind doch gut geworden“, sagt Oberärztin Primrose Meier über die von ihr betreuten Kinder. Als die in den USA speziell in der Frühgeborenen-Medizin Ausgebildete vor vielen Jahren nach Bremen kam und auch Kindern eine Chance gab, die vor der damaligen Schallgrenze 26. Schwangerschaftswoche geboren wurden, da hörte sie oft: „Das machen wir nicht mit, das sind doch Fehlgeburten.“ Heute überleben selbst von den 750 bis 1.000 Gramm schweren Kindern über 80 Prozent.

Einiges hat sich geändert in der Frühgeborenen-Intensivmedizin Links der Weser: Die Kinder werden möglichst wenig gestört, Blut wird viel seltener abgezapft, Sauerstoff nur noch bei wirklichem Bedarf gegeben, das Licht ist runtergedimmt ... Die Mütter können sich die Kinder, sobald sie selbstständig atmen, täglich zwei Stunden auf die nackte Haut legen (“Kangarooing“). Die Methoden der Wiener Ärztin Malkowitch allerdings, den Säuglingen Kassetten mit Herz- und Darmgeräuschen der Mütter im Brutkasten abzuspielen, hat man nicht übernommen.

Darmgeräusche spielt auch das Krankenhaus Bremen Nord seinen Frühchen nicht vor, hier tragen dafür auch die Schwestern die Kinder in Tuch oder Sack am Leib herum. „Da ist selten eine, die ohne Kind rumläuft“, sagt Ulrike Hauffe, Diplompsychologin in Bremen Nord. Wer nämlich viel Körperkontakt bekommt, entwickelt zum Beispiel früher den Saugreflex und muß dann nicht mehr mit der Sonde ernährt werden. Hier schaue man überhaupt mehr, was das Kind von alleine kann, sagt die Psychologin. Genauso wie man den Eltern das Kind oft nicht erst ab einem Gewicht von 2.500 Gramm mitgebe. „Die Eltern sollen erproben können, daß sie durchaus richtig sind für ihr Kind.“ Frühchen-Eltern leiden nämlich meist unter einem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den Schwestern, den scheinbar „besseren Müttern“.

Solche Probleme kommen im wöchentlichen Frühchen-Elterntreff in Bremen Nord auf den Tisch. „Da fließen viele Tränen.“ Da kommen die Schuldgefühle zum Vorschein, die Verzweiflung über das „Versagen“: Da erinnern sich zum Beispiel ein Paar, vor dem Blasensprung mal wieder furchtbar gestritten zu haben... Frühchen-Eltern sind eben auch „frühgeboren“, sagt Ulrike Hauffe, sie müssen Eltern sein, wenn dieser Reifeprozeß noch gar nicht abgeschlossen ist – und können sie ihrem Wurm noch nicht mal so gut helfen wie die Schwestern. Christine Holch