■ Mit ihrer Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt verstrickt sich die SPD in heillose Widersprüche
: In der Falle

Schon gehört? Rudolf Scharping will sich jetzt doch nicht von Gregor Gysi zum Kanzler wählen lassen. Überrascht? – Wohl kaum. Aber die eigentliche Überraschung liegt ja auch nicht in Scharpings kategorischer Ablehnung, sondern darin, daß er Gysis bitterböses Angebot nicht einfach mehr ironisieren kann oder ignorieren darf. Allen Ernstes muß er es zurückweisen. Die Unterstellung jedenfalls, er ziehe eine Unterstützung der PDS in Erwägung, kursiert bereits. Wenn nicht alles täuscht, wird sich Scharping in den kommenden Wochen noch mit ganz anderen Unterstellungen herumschlagen müssen. Soviel steht schon fest: „Magdeburg“ wird ein Wahlkampfschlager.

Was keine noch so infame Unionsstrategie hätte zuwege bringen können, die SPD hat es geschafft. Über Nacht hat sich Scharpings bis an die Grenze des Erträglichen geschärftes Profil eines durch und durch berechenbaren, auf Kontinuität setzenden Politikers verflüchtigt. All die, die in ihm nur eine Fortsetzung Kohls unter anderem Etikett fürchteten, dürfen aufatmen – quer übers politische Spektrum. Die Grünen sind angetan und auch ein bißchen konsterniert über Scharpings späten Wagemut. Und die Union sieht mit Blick auf den Wahlherbst ihre Restsorgen schwinden. Sie muß nicht länger fürchten, der SPD- Herausforderer werde doch noch als junger, tatkräftig wirkender Kohl-Kopist überzeugen, der den Kanzler mit dessen eigenen Mitteln zu schlagen versucht. Ab jetzt werden die konservativen Wahlkämpfer Scharping zum Abenteurer erklären, zum biedermännisch getarnten Volksfrontakteur.

Natürlich ist das Propaganda. Doch wie jede „gelungene“ Propaganda wird die erst wirklich gefährlich, wenn sie, wie lose auch immer, an Reales anknüpfen kann. Das gelingt, seit mit dem Segen der Bonner SPD-Spitze in Magdeburg eine von der PDS heftig umworbene, von der CDU strikt abgelehnte Minderheitsregierung favorisiert wird. Mit seinem Plazet liefert Scharping den Anknüpfungspunkt für die üble Nachrede, mit seiner Reaktion den ersten Beweis, daß sie auch funktioniert: Er muß jetzt ständig dementieren, Widersprüche ausräumen, klarstellen – statt einfach loszulachen.

Das Positive zuerst: „Magdeburg“ ist gut gemeint. Nicht aus Übermut hat sich die SPD auf eine rot-grüne Minderheitsregierung für Sachsen-Anhalt eingeschworen. Eher erschien ihr die Absage an die längst prognostizierte große Koalition als letzte Möglichkeit, rot-grünen Wendewillen zu demonstrieren und den Trend für Bonn doch noch umzukehren. Was in den Monaten zuvor versäumt worden war, die SPD als Motor des politischen Wechsels zu präsentieren, sollte nun mit einem einzigen Schlag nachgeholt werden. Gerade der Überraschungseffekt dieser bislang nirgends auch nur angedachten rot-grünen Regierungsvariante sollte allen Zweiflern die Entschlossenheit der Sozialdemokraten gegen ein Bonner „Weiter so“ signalisieren.

Zum riskanten Kalkül finden sich auch die passenden Argumente. Daß die Union und ihr gescheiterter Partner in Sachsen-Anhalt dramatische Verluste, die oppositionelle SPD beachtliche Gewinne verbuchen konnten, daß große Koalitionen sich selbst lähmen, daß die Stimmen der PDS nicht als Sperrminorität für alle anderen Konstellationen akzeptiert werden dürfen, daß sechzig Prozent der WählerInnen sich gegen die bisherigen Regierungsparteien ausgesprochen haben und jetzt ihren Anspruch auf die neue Politik einfordern – damit läßt sich fürs erste ganz plausibel gegen eine schwarz-rote Koalition argumentieren. Doch die Argumente klingen nicht nur schön. Unterfüttert mit dem vollen demokratischen Pathos, das die SPD immer dann bemüht, wenn sie sich auf Prekäres einschwört, verdecken sie auch die Widersprüche, in die sich Scharping, Höppner und Co. jetzt heillos verstricken.

Es gehört bekanntlich zum Charakter von Minderheitsregierungen, daß sie nicht schon vorab mit parlamentarischen Mehrheiten rechnen können. Auf Kooperation über das Regierungslager hinaus sind sie zwingend angewiesen. Als rot-grüner Wunschpartner im Sinne der Mehrheitsfindung wird in Magdeburg seit der Wahlnacht die Union präsentiert. Da fragt sich schon, warum die neue Politik ausgerechnet von den „abgewirtschafteten“ Konservativen mitgetragen werden könnte. Die werden zwar, damit die SPD ihr Signal für Bonn setzen kann, in die Opposition verwiesen. Doch schon macht die Argumentation kehrt: Um den Eindruck zu zerstreuen, Rot-Grün kalkuliere mit den Stimmen der PDS, wird ans Verantwortungsbewußtsein der Union appelliert. Harte parteipolitische Attacken und Runde-Tisch-Nostalgie, beides geht in Magdeburg derzeit prächtig zusammen.

Keiner bringt die Einladung der Konservativen zur Mitarbeit am rot-grünen Pilotprojekt so schön auf den Punkt wie Oskar Lafontaine: Die Union in Sachsen-Anhalt solle jetzt aus der konstruktiven Opposition heraus ihren Reifeprozeß zu einer wirklich demokratischen Partei unter Beweis stellen. Man muß kein glühender CDU-Anhänger sein, um dieses Angebot nicht sonderlich attraktiv zu finden. Soviel Machtvergessenheit dürfen selbst Sozialdemokraten ihren politischen Gegnern nicht öffentlich zumuten, ohne für heuchlerisch gehalten zu werden.

Es sieht derzeit nicht danach aus, als könne es der SPD gelingen, die Union in die Selbstlosigkeit, in eine Art staatspolitischen Altruismus zu treiben. In der ablehnenden Haltung der CDU sieht die SPD die pure Verweigerung. Doch die Union braucht nur auf ihre Koalitionsbereitschaft zu verweisen. Damit behält die SPD den Schwarzen Peter und das Magdeburger Projekt seinen Konstruktionsfehler: Einleiten läßt es sich womöglich noch ohne, realisieren wohl nur mit der PDS. Was das im einzelnen für die versprochene Reformpolitik in Sachsen-Anhalt bedeutet, ist offen. Doch daß die PDS allein schon von der Debatte um ihre Magdeburger Perspektiven profitiert, liegt auf der Hand. Mit seiner so ungewollten wie unvermeidlichen PDS-Schwäche jedenfalls bekommt das Experiment einen für die SPD höchst unangenehmen Drive.

Dabei ist es im Hinblick auf den Herbst ziemlich uninteressant, daß sich das öffentliche Bild der SED- Nachfolgepartei unter dem Eindruck ihrer Wahlerfolge und den publizistischen Abbitten an die lange unterschätzten Genossen um Gregor Gysi bereits zu wandeln beginnt. Für die argumentative Selbstverstrickung der SPD reicht ja, daß sie selbst das PDS-Tabu verinnerlicht hat. Je unabweisbarer wird, daß die fehlenden Stimmen im Magdeburger Landtag von der PDS kommen müssen, desto deutlicher verspürt die SPD den Zwang, das Verdikt gegen die PDS zu bekräftigen. Nähme sie den Konfrontationskurs gegen die PDS noch ernst, müßte sie das Magdeburger Projekt aufgeben. Kalkuliert sie mit den Stimmen der PDS, liegt der Widerspruch zwischen Maxime und Praxis ziemlich offen zutage.

Was das bedeutet, weiß nicht nur Peter Bönisch. Auch der SPD wird schon unwohl. Also herrscht bis auf weiteres Meinungsvielfalt: Gerhard Schröder, ein Mann mit ganz eigenen Interessen, plädiert mutig, weil ohne persönliches Risiko, schon mal für die Koalition mit der PDS. Scharping sagt das genaue Gegenteil und schließt jede Zusammenarbeit aus. Reinhard Höppner schließlich, für die Realisierung des Projektes verantwortlich, erkennt die Zwangslage und plädiert nicht ohne Feinsinn gegen eine Zusammenarbeit mit der Partei, wohl aber für die Zusammenarbeit mit ihren einzelnen Abgeordneten. Die noch unter dem Schock der Wahlnacht stehenden Grünen wiederum lassen keine Gelegenheit aus, die „inhaltlichen Gemeinsamkeiten“ mit der PDS als gedeihliche Basis für die rot-grüne Minderheitspolitik zu interpretieren. Ihnen scheint längst klar, was der Koalitionspartner noch verschlüsseln zu können glaubt.

Wie aus der Magdeburger Kakophonie Politik wird, gehört zweifellos zu den spannendsten Experimenten im neuen Deutschland. Läge Sachsen-Anhalt im politischen Niemandsland, würden alle in erster Linie an der unsäglichen Langeweile des Politikbetriebes verzweifeln und wäre Spannung der eigentliche Inhalt von Politik, wir müßten der SPD und Reinhard Höppner für ihre Innovationsbereitschaft dankbar sein. Doch wie es aussieht, wird in Sachsen-Anhalt gerade entschieden, ob Kohl auch nach dem Herbst weiterregieren wird. Nichts spricht dafür, daß die Entscheidung so ausgehen wird, wie Scharping und seine Berater es sich wünschten. Wie kamen sie nur auf die Idee, man könne auf die Signalwirkung eines Ereignisses vertrauen, dessen Konstruktion man zugleich sorgfältig verbergen müsse.

„Magdeburg“ sollte die Offensive einleiten. In der Offensive ist die Union. Noch bevor es richtig ernst wird, beginnt die Kampagne, sind die Sozialdemokraten bereits zur Schadensbegrenzung verdammt. Doch der Schaden läßt sich in Wahlprozenten ohnehin schwer messen. „Magdeburg“, von einigen naiv als Spätvariante der Runden-Tisch-Kultur angepriesen, ist ein Prototyp für künftige politische Bündnisse. Daran werden sich die politischen Auseinandersetzungen aufheizen und die Lager rekonstruieren. Links heißt dann: SPD, Grüne, PDS. Ironie der Geschichte: Auf der Linken könnte sich dann einer wiederfinden, der ausgezogen war, „die Mitte“ zu erobern. Matthias Geis