Kurde im Polizeigriff erschossen?

Die Ermittlungsbehörden können die entlastende Version der tödlichen Verhaftung eines Plakatklebers nicht mehr aufrechterhalten / Schußentfernung 5 bis 15 Zentimeter  ■ Aus Hannover Jürgen Voges

Eine Woche nach dem Todesschuß eines Zivilpolizisten auf den 16jährigen Kurden Halim Dener sind die genauen Unstände der Tat unklarer als zuvor. Die Ermittlungsbehörden halten allerdings ihre den Schützen entlastende Version der Ereignisse auf dem Steintorplatz in Hannovers Innenstadt inzwischen nicht mehr aufrecht. „Da es sehr verschiedene Darstellungen des turbulenten Tatgeschehens gibt, ist es immer noch verfrüht, sich auf einen bestimmten Ablauf festzulegen“, erklärte gestern der ermittelnde Oberstaatsanwalt Nicolaus Borchers.

Am vergangenen Freitag, einen Tag nach der Tat, hatte es der hannoversche Polizeipräsident als sicher dargestellt, daß der 28jährige Zivilbeamte ausgerutscht sei und dabei versehentlich den tödlichen Schuß ausgelöst habe. Diese Darstellung der Schußabgabe nannte der Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums gestern „eine wohlwollende und unkritische Wiedergabe der Aussage des beschuldigten Beamten“.

Festzustehen scheint inzwischen, daß der Schuß, der Halim Dener unterhalb des rechten Schulterblattes in den Rücken traf, aus nächster Nähe abgegeben wurde. Nach einem Gutachten des Landeskriminalamts betrug der Abstand zwischen dem Revolver und der Jacke des Getöteten höchstens 15 und mindestens 5 Zentimeter. Dieser Befund steht im klaren Widerspruch zu den Angaben des 28jährigen Polizeibeamten, der von einer Entfernung von zwei bis vier Metern gesprochen hatte. Allerdings hatten die jungen Kurden, die Zeugen der Tat waren, die Entfernung noch höher geschätzt.

Die Gutachter haben außerdem sowohl an der Schußhand des Polizeibeamten als auch an der linken Handinnenfläche des Opfers Schmauchspuren feststellen können. Demnach muß die linke Hand Deners auf den Rücken gedreht gewesen sein – er befand sich möglicherweise im Polizeigriff, als auf ihn geschossen wurde. Oberstaatsanwalt Borchers nannte es eine „häufige Erfahrung, daß auch subjektiv aufrichtige Zeugen nach einer nur Sekunden dauernden Tat sehr widersprüchliche Aussagen machen“.

Der Bremer Rechtsanwalt Eberhard Schulz, der die Eltern des Opfers vertritt, wies darauf hin, daß die vier jungen Kurden, die sich erst auf sein Anraten der Polizei als Zeugen zur Verfügung stellten, in der Dunkelheit nicht den gesamten Ablauf hätten lückenlos verfolgen können. Allerdings hätten drei der Zeugen gesehen, daß der Beamte von sich aus seinen Revolver gezogen habe. Daß sich die Staatsanwaltschaft nunmehr vor Abschluß der Ermittlungen nicht auf einen konkreten Ablauf festlegen wolle, sei völlig korrekt.

Die Vorabversion, die die Polizei verbreitet habe, könne man sich nur aus dem Bestreben erklären, den Beschuldigten von vorneherein reinzuwaschen, so Schulz. Anstoß nahm der Anwalt allerdings daran, daß die Staatsanwaltschaft nur wegen fahrlässiger Körperverletzung mit Todesfolge ermittle: „Bei jedem tödlichen Schuß eines Nichtpolizisten wird immer zunächst wegen Mordes ermittelt.“ Nach Angaben von Schulz haben weder das Land Niedersachsen noch die Polizei bisher den Eltern ihr Beileid ausgedrückt. Das Innenministerium entschuldigte dies damit, daß die Adresse der Eltern bisher nicht bekannt sei.