„Tribut und Obolus im hirnverrückten Schrei“

Fußball. Joschka Fischer mag ihn, Ror Wolf hat ihn bedichtet und Eckhard Henscheid auch – mit einer „Hymne an Bum Kun Cha“: Ein Streifzug durch die fußballerischen Sehnsüchte der Intelligenz – bis hin zur Müller-Milch  ■ Von Josef-Otto Freudenreich

„Langsam ging der Fußball am Himmel auf. Nun sah man, daß die Tribüne besetzt war. Einsam stand der Dichter am Tor. Doch der Schiedsrichter pfiff: Abseits.

Günter Grass

Am Vorabend dieser Fußballweltmeisterschaft geschah etwas Unerhörtes: Deutschlands Dichter und Denker sprachen über Fußball, im Fernsehen, und das fünfundvierzig Minuten lang. Eine Halbzeit Jens statt Rubenbauer, Delius statt Faßbender – wann hat es das zum letzten Mal gegeben?

Bernhard Minetti erinnerte sich an seinen besten Freund Herberger („Seppl hatte die Intuition genialischer Menschen“) und Ludwig Harig hub zum ersten alexandrinischen Sonett über den Fußball an: O abgetropfter Ball! O eingeschlenztes Leder / Der fußerzeugten Kunst begleicht und opfert jeder / Tribut und Obolus im hirnverrückten Schrei.

Wie banal klingen dagegen die heutigen Großmeister des Fußballworts: Werner Hansch, der bereits als Ruhrpott-Rilke gefeiert wird, weil er ein Metaphernquäler ist („Weiß der Kuckuck, wie der das Ei am Tor vorbeigezwirbelt hat“), oder der smarte Reinhold Beckmann von Sat.1. Sie sprechen die neue Sprache des Fußballs, und seine Akteure sagen „ja gut“ dazu, „vom Feeling her hatte ich ein gutes Gefühl“ (Andreas Möller). Erleben wir nun die Renaissance der intellektuellen Fußballfans? Ausgerechnet jetzt, wo wieder eine Truppe von Biedermännern bei der Weltmeisterschaft kickt? Auf dem Feld befehligt vom Kapitän Lothar Matthäus, dem Torminator, der SubjektPrädikatObjekt spricht, aber ohne Inhalt. Und in den USA werden wieder deutsche Tugenden demonstriert, Kampfkraft, Disziplin und Härte, und damit ist sicher weit zu kommen.

Ist dies vielleicht die neue Herausforderung für Deutschlands Geistesmenschen? Wenn schon das Spiel keine Kunst mehr ist, dann wenigstens die Beschäftigung mit ihm? Nein: Es ist kein neues Phänomen, daß sich Intellektuelle dem Fußballsport widmen. Eine literarische Mannschaftsaufstellung könnte mit Ödön von Horváth und seiner wunderschönen „Legende vom Fußballplatz“ beginnen oder mit Joachim Ringelnatz' Spottgedicht zum Fußball „Ich kenne wen, der litt akut! / an Fußballwahn und Fußballwut“.

Unbedingt im Team auch Friedrich Torberg mit seinem Nachruf auf Mathias Sindelar, den schmächtigen Wiener Mittelstürmer, genannt „der Papierene“, für den im Austrofaschismus kein Platz mehr war: „Von einem einzigen harten Tritte / fand sich der Spieler Sindelar / verstoßen aus des Planes Mitte, / weil das die neue Ordnung war.“ (Sindelar war Antifaschist und hatte nach der Annexion Österreichs durch Hitler 1939 Selbstmord begangen.) Mit dabei Günter Grass („Nächtliches Stadion“), Max von der Grün („Rückgabenpaul e.V.“), Heinrich Böll („Beim 1. FC Köln zu Haus“) und Peter Handke, dessen „Angst des Tormanns beim Elfmeter“ freilich nicht den Respekt der Fachwelt fand, wie Petar Radenkovic bewies, der nur bis zur vierten Seite des Buches vorgedrungen war. Es würde „nix viel über Fußball“ drinstehen, hat der legendäre Torwart der Münchner „Löwen“ gesagt.

Waren die Pässe dieser Herren also noch eher kurzer Natur, so sollten nach ihnen Steilvorlagen kommen, die das Spiel erst richtig öffneten. Sie kamen mit dem Aufbruch der Gesellschaft, mit Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ und F.C. Delius' (welch ein Vorname) programmatischem Limerick „Ein jüngerer Herr namens Seeler / spielt Fußball ohne Fehler. / Und schießt er ein Tor, / mit Bein oder Ohr, / dann jubeln Willy Brandts Wähler.“ Drüben auf der Insel wurde George Best gefeiert, der Ire, der die Frauen und den Alkohol liebte. Just im Jahr der Studentenrevolte wurde er Europas Fußballer des Jahres. Fußball war jetzt Kunst und Politikum, „Symptom einer relativ hohen Zivilisationsstufe“, wie Norbert Elias schrieb.

Das große Spiel atmete plötzlich den Geist der Utopie, der Emanzipation, und die Philosophen, Soziologen und Literaten sogen ihn gierig ein. Es entstanden „notwendige Beiträge“ zur Fußballweltmeisterschaft 1974.

Überwunden war der krude Marxismus eines Gerhard Vinnai („Die Tore auf dem Spielfeld sind die Eigentore der Beherrschten“), jetzt lebten die Losungen der Französischen Revolution neu auf. Egalité, liberté, fraternité – im Flugwind des Balls werden alle Menschen Brüder, der Ball ist die letzte massenverbindende Metapher des Lebens.

Fußball war ein symbolischer Akt, war Klassenkampf: Gladbach gegen Bayern, das war Links gegen Rechts. Der Soziologe Gerd Hortleder stellte Jean-Paul Sartre („Man ist nicht Tormann oder Läufer, wie man Lohnarbeiter ist“) vom Kopf auf die Füße und erklärte den Fußballsport zum „Ritus gegen die programmierte Kälte des Arbeitsalltags“, Peter Handke vermutete gar „Die Welt im Fußball“ vereint, und die Gruppe 47 kickte während ihrer Tagung im Berliner Grunewald.

Der Frankfurter Ror Wolf, der seinerzeit beste Empiriker unter den Literaten („Das nächste Spiel ist immer das schwerste“), sah die „Eintracht mit dem Hammer“ da, und Eckhard Henscheid, der ausgewiesene Experte in Sachen „Standardsituationen“, komponierte eine „Hymne auf Bum Kun Cha“: „Wir sahen dich erstmals, Lieblicher, gegen Stuttgart / und das Herz war bezaubert, verzaubert bald gar.“

Es war jene Zeit der Inspiration, in der selbst Spieler wie Sepp Maier lesenswerte Buchautoren wurden („Ich bin doch kein Tor“), Gerd Müller seinen Bundestrainer fragte: „Herr Schön, gehen wir heute abend wieder ins Theater?“ und die Denker der Frankfurter Schule den Fußball zum Protestmittel umfunktionierten. Weil der Philosoph Georg Lukacs sie als „Grand Hotel Abgrund“ verspottete, schmückten sie ihr Mannschaftstrikot mit dem Schriftzug „Grand Hotel Abseits“ und ihr verbales Repertoire mit dem Schlachtruf: „Wer zweimal nicht ins Abseits rennt, gehört schon zum Establishment.“

Ohne Ironie: Frankfurt war die Metropole des freigeistigen Fußballs, wobei es reiner Zufall ist, daß am selben Ort der Deutsche Fußballbund residiert. Nirgendwo sonst in der Republik war diese Einheit von Kopf und Fuß so offenkundig, nirgendwo die Leidenschaft zum rollenden Objekt so heißblütig – etwa im Ostpark, wo Joschka Fischer und Daniel Cohn- Bendit in spielerischer Eigenrealisation versammelt waren und es heute noch Samstag für Samstag sind.

Von Frankfurt aus, und nicht am Gladbacher Bökelberg, stieß Günter Netzer aus der Tiefe des Raumes vor, geschickt von Karl Heinz Bohrer, dem Kulturkorrespondenten der FAZ, dessen Vater früher linker Läufer war. Ja, Günter, der Göttliche. Er war ihr ideeller Gesamtfußballer, ein Gesamtkunstwerk sozusagen, weil er alles verkörperte, was die Intelligenzia an Sehnsüchten aus dem eigenen kleinen Kickerleben mit in ihre Schreibstuben hinübergenommen hatte.

Er hatte lange Haare und eine schöne Frau, die Hannelore Girrulat, dazu einen Lotus; und er konnte sich jeden Ball so zurechtlegen, als gingen von seinen Händen magische Kräfte aus. Und wie er ihn mit seinen unterschiedlich großen Füßen behandelte, welche Flugbahn er für ihn wählte, auch das atmete, wie die Frankfurter Rundschau befand, wieder den Geist der Utopie – so grenzenlos, daß der Torwart von Epa Lárnaca auf Zypern seine Freistoßmauer in einem Bogen neben dem Torpfosten aufstellte. Der Magier schoß immer mit Effet.

Wie gut, daß dieser Netzer ein „Produkt der Jugendrebellion“ war (Gert Hortleder), mit proletarischem Drive zur Souveränität, und trotzdem ein Teil seiner Klasse blieb, während Franz Beckenbauer über Wagner-Festspielbesuch in Bayreuth aufstieg und stets nur das Genie des Kleinbürgertums war. Nein, mit Kaiser Franz, dem „Symbol des Kapitalismus im Zeitalter der Refeudalisierung“ (Walter Jens), mochten sich die Intellektuellen nie anfreunden, und das galt auch für seinen Verein, den FC Bayern, der ihnen nur nüchtern, pragmatisch und funktional schien: kalt kalkulierter Fußball, verantwortet von den Mächtigen, den Bossen, wie Jens zu sagen pflegte.

Da mochten die Überflieger des grünen Rasens nicht mehr dabeisein. Bis sich Hans Magnus Enzensberger 1986 aufrappelte und seine Freunde mit einem genialen Schachzug aus der inneren Emigration befreite. Deutschlands Groß-Essayist ließ den kurzen Sommer der Demokratie nochmals aufscheinen mit César Luis Menotti, dem Großmeister fulminanter Fußball-Ideologie. Menotti schrieb ein Manifest in Enzensbergers TransAtlantik mit dem programmatischen Titel „Fußball aus der Tiefe des Volkes“, was um so bedeutsamer schien, als Menotti argentinischer Nationaltrainer und Linker war.

„El Flaco“, der dünne Kettenraucher, pries den Fußball der Linken, welcher der „Lebensfreude, der spielerischen und schöpferischen Freiheit“ diene. So bereite er „uns vor auf ein besseres, ein gerechtes und menschliches Leben“. Der Fußball der Rechten hingegen sei ein „Ausdruck der Raffgier und Spekulation“ der „herrschenden Klasse“ unter Einschluß „aller erdenklichen faulen Tricks“. Sein Fußball, so dozierte Menotti, soll stets nach Gerechtigkeit und Qualität streben. Denn dies, fährt er fort, habe schon Che Guevara gesagt: „Qualität, das ist der Respekt vor dem Volk.“

Fortan schöpfte der intellektuelle Fan wieder Hoffnung. Nun wurde wieder geschrieben – über damals, als alles besser war. Die alten Originale, in der Rückschau proletarisch-folkloristisch verklärt, durften wieder leben. Willi Lippens, der unnachahmliche Linksaußen mit dem Watschelgang, wurde zum Titel des Buches „Als die Ente Amok lief“, Lothar Emmerich („Abschuß und Einschlag im gleichen Moment, dat wolln die Leute sehen“) gelang dasselbe mit „Gib mich die Kirsche“ (was er von seinem kongenialen Partner Siggi Held zu fordern pflegte), und Hennes Weisweilers Wiedergeburt fand unter dem Signum „Don Hennes und die Liebe zur Liga“ statt.

Auch F.C. Delius meldete sich zurück, mit seiner autobiographischen Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“. Wer, der jenen 4. Juli 1954 miterleben durfte, findet sich hier nicht wieder? Der kleine Friedrich Christian, der stottert und unter Schuppenflechte leidet, er spielt Kohlmeyer, rechter Verteidiger, dann aber wird er Mittelläufer, Liebrich.

Die Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit ist unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkt begreiflich: Sie hat viel mit der Enttäuschung über die gegenwärtige TV-Wirklichkeit zu tun, die Fußball nicht als sinnlich erfahrbares, ganzheitliches Erlebnis, sondern als fragmentarischen Firlefanz übermittelt. In diesem Durchlauferhitzer für Stimmungsschnipsel, zerhackte Bilder und bierholende Werbemänner gedeihen keine Originale mehr, nur noch Kunstprodukte, siehe Lothar Matthäus. Nur konsequent, daß die Beschäftigung mit der Gegenwart, in der bereits ein Jürgen Klinsmann in Gefahr gerät, zum Original zu werden, entsprechend pessimistisch ausfällt. Das jüngste Werk im Klartext-Verlag, dem rührigen, heißt „Verkaufte Faszination“ und ist so unendlich wahr wie traurig. „adidas und Zeiss und Pfanni! / und Lacostes Krokodil: / Müller-Milch, Dual und Grundig / blühe deutsches Fußballspiel“.

Muß man noch etwas sagen?