"Ein Kartell ist da am Werk"

■ Trainer Volker Finke (SC Freiburg) über FIFA-Ränke, Taktik und Finessen bei der WM

taz: Herr Finke, im Moment läuft in den USA die größte Fortbildungsveranstaltung für Fußballtrainer. Sie aber sitzen mit Ihrer Mannschaft im Trainingslager auf der Nordseeinsel Langeoog und verpassen...

Volker Finke: ...Ach was, gar nichts verpasse ich dort! Ich habe mir mal kurz überlegt, rüberzufahren, aber was bringt's? Letztlich geht es doch nur darum, in irgendwelchen Hotelbars zu sehen und gesehen zu werden. Die Spieler, die bei der WM auffallen, sind für den SC Freiburg sowieso nicht finanzierbar. Und ansonsten kann ich mir alles bequem im Fernsehen anschauen, vorwärts und rückwärts.

Auf dem kleinen Bildschirm sehen Sie richtig etwas?

Warum denn nicht? Zumindest hat man schnell raus, ob eine Mannschaft etwas Neues spielt. Nur: Solche Überraschungen, wie sie Kamerun bei der WM in Italien produziert hat, sind nicht vorgekommen. Es hat sich einfach bestätigt, daß es mit Ländern wie Kamerun oder auch Ghana eigentlich schon wieder zu Ende ist.

Können Sie das erklären?

Die afrikanischen Mannschaften haben nur noch wenige Spieler im Kader, die im eigenen Land spielen. Das gilt ja sogar für Brasilien und Argentinien.

Und die anderen werden in Europa verdorben, weil...

...Nein, nicht verdorben, aber die Wechsel nach Europa lassen keine eigene Entwicklung zu. So, wie sie sich im technischen Bereich und im Offensivfußball von hinten heraus mal angedeutet hat. Diese Länder, die irgendwann mal was Eigenes entwickelt haben, haben eine Zeitlang aufgeholt. Als sie sogar Erfolge erzielt haben, sind die besten Spieler zu europäischen Spitzenklubs geholt worden – damit ist deren Entwicklung auch zu Ende. Das ist zwar schade, aber keine Überraschung: Darin drückt sich nur das übliche Nord-Süd-Gefälle aus. Innerhalb der Nationalteams führt das natürlich zu ungeheuren Problemen zwischen denen, die in ihrem Land spielen, und denen, die im Ausland das Dreißigfache verdienen. Und so stehen letztendlich im Viertelfinale neben den Brasilianern sieben europäische Teams.

Einige Mannschaften, Spanien, Südkorea, Saudi-Arabien und Holland sogar schon traditionell, treten wieder mit zwei echten Flügelstürmern und einem Mittelstürmer an. Der Trend geht also nach vorn.

Nicht unbedingt! Mannschaften mit einem nominellen Stürmer spielen nicht zwangsläufig defensiver. Was wesentlich wichtiger ist: International hat es sich absolut durchgesetzt, daß man sich nicht mehr an Pärchen von Gegenspielern orientiert. Die Mannschaft verschiebt sich über den ganzen Platz und versucht in der Nähe des Balls, eine Überzahl zu schaffen.

Nur die deutsche nicht.

Wenn sie, wie in der Vorrunde, nicht mit ganz großem Herzen spielt, dann hinkt diese Mannschaft mit ihrem traditionellen 1-2-5-2 ein bißchen hinterher. In dem Moment, wo sich die Leute zusammenreißen, geht das dann doch wieder. Im Endeffekt hat die Vorrunde gezeigt: International ist nur noch durch Kurzpaßspiel und Überzahlbildung etwas möglich.

Wer hat Ihnen denn gefallen?

In den ersten beiden Spielen vor allem Brasilien, Argentinien – leider mit dem gedopten Maradona. Aber auch eine Mannschaft wie Saudi-Arabien. Und Marokko, das ohne Punkt ausgeschieden ist: diesen Kombinationsfußball fand ich prima.

Mannschaften wie Rumänien oder Bulgarien verlassen sich vor allem auf Kontersituationen.

Das liegt seit dem Ende der Vorrunde natürlich vor allem am K.o.-System. Wer gerade das erste Tor macht, ist entscheidend in der Vorhand und geht automatisch in die Kontersituation. Das ist auch die Stärke der deutschen Mannschaft: die Zweikämpfe suchen und gewinnen, fast darauf verzichten, ein Kombinationsspiel aufzuziehen, das Spiel ständig selbst zu machen. Dann werden sie so stark sein, daß sie ins Endspiel kommen und sogar Weltmeister werden können.

In der Bundesliga fällt fast ein Drittel aller Tore nach Ecken und Freistößen. Bei der WM sind es sehr viel weniger, sind die Anläufe an den Eckfahnen zu kurz?

Das ist mir auch schon aufgefallen, daß bei Standardsituationen relativ wenig Gruppenverhalten gezeigt wird und...

...Wie bitte? Gruppenverhalten?

Das heißt, daß zwei, drei Mann ihre Wege machen, nicht um den Ball zu kriegen, sondern um einem dritten oder vierten Mitspieler die Möglichkeit zu geben, am Ball zum Abschluß zu kommen. So was muß man trainieren! Die Nationalmannschaften haben sicherlich alle genug Vorbereitungszeit gehabt, aber da wird in den Vereinen wohl doch mehr gemacht.

Die Regeln sind heftig modifiziert worden, und alle finden's gut.

Ich auch. Ein energisches Eingreifen bei Fouls aus dem Rücken des ballbesitzenden Spielers könnte tatsächlich eine Bereichung des Fußballspiels bedeuten. Weil dadurch die technisch bessere Mannschaft geschützt wird. Dem Fußball würde es guttun, wenn sich das durchsetzt.

Aber Sie sind sich noch nicht sicher, ob das klappt?

Bisher sind das Ansätze. Man muß sehen, wie das von den Schiedsrichtern letztlich umgesetzt wird. Ich fände das auch für die Bundesliga gut. Vielleicht hört dann auch mal das ganze Gesabbel von der „europäischen Härte“ auf.

Und wie gefällt Ihnen die neue Abseitsexegese?

Okay, wirklich okay. Weil früher sehr oft Abseits gewunken wurde, wo es keines war. Aber nach wie vor hängt das sehr von der Qualität des Schiedsrichtergespanns ab.

Haben Sie fürs heimische Dreisamstadion schon ein Elektrowägelchen zum Abtransport verletzter Spieler bestellt?

Dabei geht es ja wohl genauso um eine Demonstration amerikanischer Zivilisation wie beim Aufbauen eines neuen Tores innerhalb von fünf Minuten. Andererseits ist es richtig, daß Spieler am Rand behandelt werden sollten. Da muß aber wieder der Schiedsrichter erkennen, ob ein Spieler mit einer bestimmten Verletzung erst mal gar nicht runtergetragen werden sollte.

Fehlen die kleinen Kunstpausen solcher Behandlungen den Spielern nicht? Das geht doch auf die Knochen.

Ich sehe natürlich, daß die Erholungspausen der Spieler immer weniger werden. Ich finde die Tendenz aber nicht so schlecht, daß die Spiele brutto 49 oder 50 Minuten pro Halbzeit dauern. Damit kann diese Zeitschinderei nämlich auch ein Nachteil werden. Wenn der Schiedsrichter pro Unterbrechung eine Minute nachspielt, dann ist der Vorteil der Schauspielerei hin. Das ist aber ganz schwer zu verordnen und wird nach wie vor im Ermessensspielraum des Schiedsrichters liegen.

Die taz würde Ihnen gerne einen Spieler von der WM schenken. Welcher darf's denn sein?

Das wird teuer, aber bitte, wenn ich die freie Wahl habe: Ganz auffällig im defensiven Mittelfeld hat bei Argentinien der Redondo gespielt. Klassemann, gefällt mir. Der wechselt von Teneriffa zu Real Madrid, und nun versuchen Sie mal, ihn nach Freiburg zu holen. Nicht ganz einfach.

Mal sehn. Und wer wird Weltmeister?

Ich vermute, daß die WM zwischen Deutschland, Holland und Brasilien entschieden wird. Aber mal ganz was anderes: Ist das eigentlich in der taz mal thematisiert worden, daß Argentinien die Punkte aus dem Spiel gegen Nigeria behalten hat, obwohl Maradona gedopt war?

Nein.

Das ist mir nämlich völlig schleierhaft, warum das niemand aufgegriffen hat. Mit einem Punktabzug wäre nämlich nicht Argentinien, sondern Rußland ins Achtelfinale gekommen. Haben die Russen eigentlich Protest eingelegt?

Davon ist nichts bekannt.

Ich habe den Eindruck, daß da ein Kartell am Werk ist. Dabei ist das doch fast ein Freibrief für ältere Stars, solche Sachen einfach mal zu probieren, wenn die Mannschaft dadurch nicht geschädigt wird. Und bei Maradona, der vor dem Turnier zwei Wochen nicht bei seiner Mannschaft war, sieht es doch so aus, als ob der regelrecht aufbereitet worden ist. Bei aller Freude über die Kreativen dieser Welt: Das geht nicht! Interview: Christoph Biermann