■ Sommer auf Island
: Kötel und Fisch

Zweite Lieferung unseres Urlaubskorrespondenten

Im Nýlistasafniò, auch „Living Art Museum“ genannt, wurde vor ein paar Tagen eine Ausstellung mit Arbeiten von Dieter Rot eröffnet. Das Museum entstand in den frühen sechziger Jahren im Umfeld der Fluxusbewegung und ist auch heute noch einer der wichtigsten Kunstorte in Reykjavik.

Bei stürmischem Wind aus allen Richtungen, plus acht Grad und gelegentlichen Hagelschauern liefen auf der Hauptstraße, dem Laugavegur, zahlreiche Teenager in T-Shirt und Shorts herum. Im Erdgeschoß der Galerie warfen derweil zehn Diaprojektoren im Fünfsekundentakt die Ansichten von etwa 800 Häusern der Hauptstadt an die Wand. Im Stockwerk darüber Grafiken und Bücher aus der „Poetrie“-Serie (1960 bis 1966) und das aus zusammengepreßten Kaninchenkötel bestehende Objekt „Kötelkarnickel“ (1969), das die Form zweier sich gegenüberstehender Kaninchen aufweist.

Ein Großteil der fünfzig ausgestellten Arbeiten sind Geschenke des Künstlers an das Museum. So auch das Objekt „Flauta“, deutsch „Flöte“, eine Konstruktion aus acht verschieden großen, aneinandergereihten Papprohren, die im Raum an zwei dünnen Sisalfäden baumelt. Die Unterseiten der bis zu einen Meter langen Rohre sind mit Plastikfolie und Draht verschlossen, oben sind es gerollte Pappstückchen. Eine an die Wand geheftete Notiz lädt den Besucher ein, die Papppfropfen zu lösen und daran zu riechen. Die „Flauta“ stammt aus dem Jahre 1965: Marmelade, Fisch und Haferflocken sind noch gut zu identifizieren.

Ein anderes Ereignis ist der Nationaltag, der 17. Juni, Tag der Unabhängigkeit (von Dänemark), jetzt: fünfzig Jahre Republik Island. Das offizielle Festprogramm findet in Pingvellir statt, dem alten Parlamentsort von 930 n. Chr. Das Organisationskomitee hat sich große Mühe gegeben, möglichst viele Menschen dorthin zu locken. Da nirgendwo auf der Welt so viele Autos pro Einwohner existieren wie in Island, hat man alle verfügbaren Reise-, Expeditions- und Linienbusse aus dem Land in die Hauptstadt beordert, um möglichst viele zum Umsteigen in den Bus zu animieren. Tatsächlich ist die Warteschlange vor dem zentralen Busbahnhof einige hundert Meter lang. Nach einer Stunde Wartezeit in einer Schlange sitze ich in einem kleinen Expeditionsbus, der zügig anfährt, aber schon nach etwa 2.000 Metern in einem historischen Stau steckt, der sich genau die fünfzig Kilometer bis Pingvellir erstreckt.

In den Autos und Bussen sitzen Tausende von Isländern, zum Teil in historischen Trachten und Gewändern. Nach einer Stunde Stop-and-go-Verkehr verlassen die ersten Passagiere lachend und freundlich winkend den Bus, der noch nicht einmal Reykjavik verlassen hat. Das Radio überträgt die Eröffnung des Festprogramms mit einem Konzert des Isländischen Sinfonieorchesters und einer Ansprache der Staatspräsidentin Vigdis Finnbogadóttir. Der größte und mehr oder weniger einzige Stau in der Geschichte Islands wird mit keinem Wort erwähnt.

Das ist dann doch etwas unheimlich, und so ziehe ich es vor, mich den Aussteigenden anzuschließen. Die kleine Wanderung zu meiner Wohnung im Stadtzentrum dauert fünfzig Minuten, während der Bus nach fünf Stunden sein fünfzig Kilometer entferntes Ziel erreicht haben soll. Immerhin gelangten etwa 80.000 Menschen dorthin — noch während des Programms. Nur maximal 10.000 saßen derweil in ihren Autos auf der Straße, als die letzten Chöre erschallten und der Stunden währende Rückfahrtsstau einsetzte. Wolfgang Müller

(Fortsetzung folgt)