■ Offener Brief des Hamburger Politologen Peter Reichel an den Berliner Regierenden Eberhard Diepgen
: Es geht um den ganzen Widerstand

Sehr geehrter Herr Diepgen,

mit wachsender Beunruhigung verfolge ich seit einigen Wochen die Kampagne gegen die Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand und gegen meinen Kollegen Prof. Dr. Peter Steinbach, der für die Konzeption und wissenschaftliche Dokumentation der ständigen Ausstellung verantwortlich ist, seit er zu ihrer Neugestaltung durch den damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Herrn Richard von Weizsäcker, berufen wurde. Der politische Druck gegen ihn und die Gefahr einer Intervention sind offenbar so groß, daß Professor Steinbach mit seinem Rücktritt gedroht hat, falls die seinerzeit politisch ausdrücklich gewollte, den ganzen deutschen Widerstand berücksichtigende Orientierung in Frage gestellt wird.

Sehr geehrter Herr Diepgen, ich bitte Sie mit großem Ernst und Nachdruck: Bitte verhindern Sie mit dem Gewicht Ihres Amtes und Ihres öffentlichen Wortes, daß das Ansehen der Gedenkstätte und die Arbeit Professor Steinbachs beschädigt werden. Die interessen- und richtungspolitisch verständlichen, sachlich allerdings nicht haltbaren Anwürfe dürfen die Qualität der Ausstellung nicht beeinträchtigen, die sich längst auch hoher internationaler Wertschätzung erfreut, wie das zuletzt ihre Einladung nach Washington und Paris nachdrücklich unterstrichen hat.

Selbstverständlich hat die Library of Congress, in der die Widerstandsausstellung demnächst gezeigt werden soll, ihre Einladung nicht mit dem Ansinnen verbunden, die Ausstellung von jenen Exponaten zu säubern, die dem Widerstand des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) und des Bundes Deutscher Offiziere (BDO) gewidmet sind und damit jenen Soldaten, die in russischer Kriegsgefangenschaft und im Dienst der sowjetischen Armee gegen Hitler-Deutschland gekämpft haben. Wer den ganzen deutschen Widerstand würdigt, kann sie nicht ausschließen. Dies aber soll jetzt geschehen, weil in konservativen Kreisen und soldatischen Traditionsverbänden die kommunistischen Widerstandskämpfer immer noch als bloße „Verräter und Lumpen“ gelten. Zudem unterstellen die Kritiker – voran ihr Wortführer, der Attentäter-Sohn Franz Ludwig Schenk Graf von Stauffenberg –, daß die gerade nicht einseitig wertende und insofern wertfreie („wertlose“, so Stauffenberg) Ausstellung die historischen Gewichte unzulässig zu Lasten der Widerstandskämpfer des 20. Juli verschiebt. Das ist ersichtlich nicht der Fall. Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen Vorgeschichte, Verlauf und Scheitern des militärischen Umsturzversuches. Das beansprucht vier von achtzehn Räumen. Demgegenüber erinnern an NKFD und BDO – ihrem relativen Gewicht entsprechend – nur einige Schautafeln.

Dem komplexen, nach Akteuren und sozialer Herkunft, nach Ideologien, Zielen und Strategien vielschichtigen und durchaus nicht widerspruchsfreien Erscheinungsbild des Widerstands versucht die Ausstellung mit einem differenzierten Konzept gerecht zu werden. Widerspruchsfrei ist das Erscheinungsbild des Widerstands insofern nicht, als zwar in der Beseitigung Hitlers und der Beendigung des Krieges eine weitgehende Übereinstimmung bestand, aber eben nicht in den ideologischen Leitbildern und politischen Zielvorstellungen der Akteure. Politik und Wissenschaft haben nach 1945 über diese Differenzen und Divergenzen lang hinweggesehen, zumal im geteilten Deutschland ein geteiltes Widerstandsbild benötigt und produziert wurde.

Die DDR-Führung, die nicht nur, aber doch zahlreich aus der kommunistischen Arbeiterbewegung kam, den Nationalsozialismus im KZ überlebt und gegen ihn im Untergrund oder Exil gekämpft hatte, machte die sozialistisch-revolutionäre Tradition des antifaschistisch-kommunistischen Widerstands zum historischen Bezugspunkt ihres Systems. Das verhalf ihr anfangs zu einem nicht unbeachtlichen Legitimationskredit. Sie glaubte die Vorteile des geschichtlichen Erbes einheimsen zu können, ohne zugleich für die Verbindlichkeiten aufkommen zu müssen. Das zeigte sich gerade auch im Umgang mit ihren Gedächtnisorten und dem Widerstand, die umstandslos zu antifaschistischen Befreiungs- und Siegeszeichen stilisiert wurden. Was nicht in dieses Bild paßte – vor allem die jüdischen Opfer, die russischen Speziallager nach 1945, der bürgerliche Widerstand –, das wurde eliminiert.

Aber auch die Bundesrepublik konnte auf eine unhistorische Idealisierung des Widerstands nicht verzichten. So wichtig für die DDR der antifaschistische Gründungsmythos wurde, so unentbehrlich war für die „Gründungsidee“ (J. Habermas) der Bundesrepublik die undifferenzierte Nobilitierung des bürgerlich-militärischen Widerstands zum Vorkämpfer des demokratischen Rechtsstaates. Diese Erinnerungsgeste konnte die zunächst erdrückende Last der Vergangenheit wohl erleichtern und war spätestens mit der Debatte um den Aufbau der Bundeswehr auch politisch hoch willkommen. Die ebenso deutliche Erinnerung an die NS-Täter und an die Millionen ihrer jüdischen wie nichtjüdischen Opfer, Soldaten, Zivilisten, Zwangsarbeiter, in den meisten europäischen Ländern wäre das ganz und gar nicht gewesen. Hinzu kam, daß auch sogenannte Schicksalsgruppen als Opfer des Krieges und der NS- Herrschaft angesehen wurden: Flüchtlinge und Vertriebene, Ausgebombte, Kriegerwitwen, Invaliden und Spätheimkehrer. Und die ehemaligen Wehrmachtssoldaten galten weithin als Angehörige eines Berufsstandes, der im pflichtbewußten Dienst für das Vaterland von einer verbrecherischen politischen Führung mißbraucht worden war.

Die westdeutsche Geschichtswissenschaft hat – so schrieb in diesen Tagen der Darmstädter Historiker Christoph Dipper – „die meisten Tabuzonen mittlerweile betreten“ und ist sich mehr oder weniger einig darüber, daß der nationalkonservative Widerstand zwar schließlich den Sturz des Hitler- Regimes wollte und vorbereitete, aber doch auch zuvor maßgeblich an dessen Einrichtung beteiligt war. Für ihn war der Unrechtscharakter des Dritten Reiches keineswegs von Anfang an gegeben, und in der Sorge um „volkstumspolitische“ Gefahren bestand durchaus eine gewisse Nähe zum Regime, weshalb man auch hier von einer „Judenfrage“ sprach und deren Lösung als rechtsstaatlich ansah, solange die Ausgrenzung der Juden in einem bürokratisch-formalrechtlichen Verfahren vollzogen wurde.

Das Widerstandsbild im geteilten Deutschland war also in jeweils zweifacher Hinsicht unhistorisch und unkritisch. Die systempolitische Konfrontation reduzierte den tatsächlich vielgestaltigen Widerstand auf die für die Legitimations- und gesellschaftlichen Integrationserfordernisse der beiden deutschen Staaten jeweils überragend bedeutsamen Strömungen und Akteure und monumentalisierte sie zugleich nach Kräften. Die ständige Ausstellung in der Berliner Gedenkstätte bemüht sich seit Jahren, diese geteilte und verzerrte Sicht auf den deutschen Widerstand gegen Hitler zu überwinden. Sie hat damit einer öffentlichen Aufgabe vorgearbeitet, die nun – unversehens – ganz obenan auf der politischen Tagesordnung steht. Im vereinten Deutschland soll nun endlich auch im politischen Geschichtsbewußtsein zusammenwachsen, was zusammengehört, die Vorgeschichte der beiden deutschen Nachfolgestaaten des Großdeutschen Reiches. Lassen Sie nicht zu, sehr geehrter Herr Diepgen, daß die in der Gedenkstätte geschaffenen Voraussetzungen für diese politisch-kulturelle Integrationsaufgabe zerstört und unsere Widerstandsgeschichte abermals in eine böse totalitäre und in eine gute antitotalitäre auseinanderdividiert wird.

Bei der Gedenkfeier zum 20. Juli 1953 rief der damalige Regierende Bürgermeister Ernst Reuter in dem ihm eigenen Pathos den Versammelten zu: „Einmal wird hier in Berlin ganz Deutschland versammelt sein, und das ganze Deutschland wird diese Stätte als nationales Heiligtum von uns übernehmen.“ Das verhinderte allerdings nicht, daß im Zeitalter des geteilten Deutschlands in der Bundesrepublik mit zweierlei Maß gemessen wurde. Während der ehemalige Ministerpräsident und vormalige Richter eines NS-Kriegsgerichts, Hans Filbinger, eine Rede halten durfte, kritisierte der bereits genannte Stauffenberg-Sohn eine entsprechende Einladung an den damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner, der dem kommunistischen Widerstand angehört hatte. Wehner verzichtete.

Nun ist ganz Deutschland in Berlin versammelt. Und die Gedenkstätte ist – glücklicherweise – zwar nicht sakral überformt, aber sie würdigt in dokumentarischer Strenge und ganz unspektakulärer Nüchternheit den ganzen Widerstand gegen Hitler als ein nationales Ereignis von Rang. Zu Recht. Angesichts der fortwirkenden Last der NS-Vergangenheit können wir es uns nicht leisten, daß dieses Erbe zerredet und zum Spielball politischer Interessen gemacht wird. So ist zu hoffen, daß Rosemarie Reichwein, die Witwe Adolf Reichweins, der als Mitglied des Kreisauer Kreises zusammen mit Julius Leber und im Einverständnis mit Stauffenberg zum kommunistischen Widerstand Kontakt aufgenommen hatte, nicht die einzige bleibt, die es „unmöglich“ findet, „daß der Widerstand politisch so instrumentalisiert wird“.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Prof. Dr. Peter Reichel