Für eine Ukraine der Regionen

■ Sergej Korykin, grüner Kandidat bei den Parlamentsnachwahlen in der Ukraine, über ökologische und nationale Ziele seiner Partei

taz: Bei Meinungsumfragen erfreuen sich die Grünen in der Ukraine immer sehr großer Sympathien. Aber ins Parlament konnte die Partei noch keinen einzigen Abgeordneten entsenden.

Sergej Korykin: Ende des letzten Jahres erklärten sich mehr Befragte denn je bereit, uns zu unterstützen, nämlich 16 Prozent. Das wäre ganz ausgezeichnet, wenn wir in der Ukraine ein Verhältniswahlrecht hätten. Wir haben aber ein Mehrheitswahlrecht. Unsere Anhänger sind über das ganze Land verteilt, wir haben keine Hochburg, in der wir auch nur annähernd über eine absolute Mehrheit verfügen. Hinzu kommt, daß die Wahlentscheidung der Ukrainer mehr von konkreten Personen als von Parteien oder politischen Richtungen beeinflußt wird. Entscheidend ist jedoch, daß es keine wirkliche Einheit unter den demokratischen Kräften gibt. Viele Vertreter der Volksfront „Ruch“ riefen ihre Anhänger auf, ihre Stimmen in der zweiten Wahrunde nicht unseren Kandidaten zu geben, sondern den Vertretern des Präsidenten. Ruch begegnet uns häufig mit dem Verdacht, wir seien „Sozialisten im Schafspelz“.

Ein anderer Vorwurf lautet, die Grünen seien „Nationalisten im Schafspelz“.

Ich glaube, daß die Ukraine auf jede Weise ihre Unabhängigkeit festigten sollte und daß wir für lange Zeit einen gehörigen Abstand zu Rußland einhalten sollten. Denn wenn wir jetzt in eine Art von Föderation mit Rußland zurückkehren, wird dies die Rekonstruktion des sowjetischen Wirtschaftssystems zur Folge haben. Dies wäre ein gewaltiger Rückschlag, sowohl für die ukrainische als auch für die russische Wirtschaft. Die Annäherung der westeuropäischen Staaten im Rahmen der Europäischen Union war ein evolutionärer Vorgang und ergab sich daraus, daß sie ihre nationalen Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft hatten. Für uns, die wir das Potential unserer nationalen Wirtschaft noch gar nicht entwickelt haben, bedeutete eine Union mit Rußland eine erneute Herrschaft des militärisch-industriellen Komplexes. Der jetzige Präsidentschaftskandidat Leonid Kutschma fungiert praktisch als Ideologe einer Renaissance dieser alten Militärwirtschaft. So gesehen bin ich natürlich Nationalist, denn ich will, daß mein Staat unabhängig und selbständig ist und daß die Menschen meines Landes selbst über ihr Schicksal entscheiden.

Und was heißt das für die konkrete Politik?

Die ukrainische Grüne Partei fordert in ihrem Programm den Austritt aus der GUS. Unter den Bedingungen einer engen politischen und ökonomischen Zusammenarbeit wird kein einziger Nachbarstaat Rußlands seine Unabhängigkeit wahren können. Und das nicht etwa, weil Rußland „böse“ ist, sondern wegen seiner einzigartigen geopolitischen Lage. Ja, ich bin ein Patriot meines Landes. Aber gleichzeitig glaube ich nicht, daß es sich lohnt, im Namen des Nationalstaates die Freiheit der einzelnen Menschen in irgendeiner Weise zu beschneiden.

Viele Menschen in der Ukraine führen die wachsende Armut in ihrem Land aber darauf zurück, daß man sich voreilig von Rußland abgenabelt hat.

Daß es den Menschen bei uns heute so schlechtgeht, liegt nicht an unserer Unabhängigkeit. Der Grund ist, daß es bisher zu keiner strukturellen Änderung unserer Wirtschaft gekommen ist. Und keiner der regierenden Politiker hat sich mit der Frage der Anpassung unserer Wirtschaft an die Bedürfnisse eines Einzelstaates beschäftigt. Sie saßen mit den Händen im Schoß und mit marktwirtschaftlichen Losungen auf den Lippen da und haben seelenruhig zugesehen, wie alles zerfiel. Und zwar nicht etwa durch die Schuld des Marktes, sondern weil sie in Wirklichkeit jenes System beibehielten, dessen Möglichkeiten sich schon vor Gorbatschow erschöpft hatten.

Dennoch muß man aber fragen, wie die ukrainische Wirtschaft ohne russisches Erdöl und Erdgas auskommen könnte.

In der Ukraine gibt es keinen Mangel an Energiequellen. Doch es wird einfach zu viel Energie verschwendet. Im letzten Jahr hat sich die Produktion unserer Industrie um 16 Prozent verringert. Dabei ist aber der Energieverbrauch im Vergleich zum Vorjahr gleichgeblieben. Außerdem müssen wir existierende Energieproduzenten modernisieren. Wir haben Wärmekraftwerke, die dringend der Rekonstruktion bedürfen, sowie völlig ineffektive Wasserkraftwerke. Wenn Sie auf dem Dnjepr fahren, dann sehen Sie künstliche Stauseen, in denen die Fische aufgrund der hohen Temperaturen, die sich dort im niedrigen Brackwasser bilden, bei lebendigem Leibe verfaulen.

Das ganze System der Dnjepr- Talsperren stellt für unser Land eine gewaltige ökologische Bedrohung dar, von der man im Westen – im Unterschied zur Frage unserer Atomreaktoren – leider sehr wenig weiß. Diese Wasserkraftwerke nützen niemand, aber für die Fischfriedhöfe sind große, einstmals reiche Dörfer überflutet worden, eines der besten Schwarzerdegebiete der Ukraine. Und unverzüglich nachdem dies vollbracht wurde, hat man sich an den Bau der AKWs gemacht.

Statt Abhängigkeit von Rußland droht also nun Abhängigkeit von der Atomenergie?

Am 22. Februar fand ein nichtöffentliches Treffen von Präsident Krawtschuk mit den Direktoren unserer Atomkraftwerke statt. Am Tag danach unterschrieb Krawtschuk einen Ukas „über unaufschiebbare Maßnahmen zur Entwicklung der Atomenergie in der Ukraine“. Dieser sieht die Inbetriebnahme von fünf neuen Atomreaktoren vor, außerdem den Weiterbetrieb des Kraftwerks von Tschernobyl. Das alles wird mit dem Energiebedarf des Landes begründet. Durch den gleichen Ukas erhält aber das staatliche Atom-Komitee das Recht, bis zu 25 Prozent der von unseren Reaktoren erzeugten Energie in andere Staaten zu exportieren und die daraus gewonnenen Mittel nach eigenem Ermessen zu nutzen. Wofür? Das bleibt offen. Denn was die Finanzierung der weiteren Entwicklung von AKWs betrifft, so wird die durch den gleichen Ukas unseren Verbrauchern aufgehalst. Sie soll durch Gebührenerhöhungen gedeckt werden.

Kann es denn überhaupt gelingen, die Forderungen einer Ökologiepartei in Einklang zu bringen mit dem Aufbau eines Nationalstaates und der Einführung der Marktwirtschaft?

Unsere Partei zeichnet sich gerade dadurch aus, daß wir der Ansicht sind, daß alle drei Aufgaben nur gemeinsam gelöst werden können. Die großen politischen Interessengruppen gründen sich auf große ökonomische Interessengruppen, ob die sich nun als kommunistisch oder als kapitalistisch bezeichnen. Und die Demokratisierung der Gesellschaft wird nur durch eine Entmachtung dieser Gruppen ermöglicht. Eine Wirtschaftsreform ohne die Berücksichtigung ökologischer Kreisläufe wäre heute einfach nicht mehr zeitgemäß. Wenn ich mir die Verseuchung gewaltiger Bodenflächen in der Ex-Sowjetunion ansehe, ihre Entwertung durch Korrosion aufgrund extensiver Landwirtschaft, dann denke ich, daß größere Teile dieses Grund und Bodens Verteidiger gefunden hätten, wenn sie Privateigentum gewesen wären. Völlig lächerlich nahmen sich in unserem ehemaligen System die „Strafen“ des Staates gegen Unternehmen aus, die ökologisch „sündigten“. Dabei holte sich der Staat aus der einen Hosentasche – derjenigen des Produzenten – das, was er sich in seine andere Tasche – diejenige der Gesellschaft – wieder hineinsteckte.

Wie wollen Sie die genannten drei Ziele in einem ethnisch und regional geteilten Staat wie der Ukraine realisieren. Denken Sie an eine Föderation?

Wir sehen die Ukraine als unitären dezentralisierten Staat. Was bedeutet dieser scheinbare Widerspruch? „Unitär“ heißt in diesem Zusammenhang, daß wir gegen die Aufteilung der Ukraine in irgendwelche Bundesländer sind, mit anderen Worten gegen eine Föderation. Einerseits gibt es in der historisch gewachsenen Ukraine keine Tradition des Föderalismus, andererseits könnte dies zu einer schnellen Abspaltung der erst später hinzugekommenen Gebiete führen.

Was kann dann aber das Eigenschaftswort „dezentralisiert“ bedeuten? Wir glauben, daß es für das Land sehr viel besser wäre, wenn die einzelnen Regionen weitgehend über die Verwendung der Steuern entschieden, die in ihrem Bereich eingenommen werden. Dies käme auch der Umwelt zugute. Denn die Menschen sind meist nur bereit, in ihrer Heimatregion etwas gegen die ökologischen Probleme zu unternehmen. Interview: Barbara Kerneck