Ein ganz normaler Mann?

Stille Tage im Klischee. Anna Maria Pellegrino probiert sich als Reiseleiterin bei einem Horrotrip ins Seelenleben eines Vergewaltigers  ■ Von Anke Westphal

Anna Maria Pellegrino, Psychologin und Schriftstellerin, wurde zu diesem Buch durch eine Umfrage in den USA angeregt, bei der 40 Prozent der befragten Männer erklärten, daß sie vergewaltigen würden, wenn ihnen Straffreiheit garantiert wäre. Pellegrino hat versucht, sich in dieses erschreckende Phänomen hineinzudenken. Sie nimmt den Blick eines Mannes an und versucht, mittels eines fiktiven Tagebuchs seinen Weg ins Verbrechen zu rekonstruieren. Am Ende von Pellegrinos Versuch steht, was das hier entworfene Männerbild angeht, eine Anhäufung von Klischees und, weit schlimmer noch, eine Animation zum Verbrechen.

Pellegrinos Modelltäter ist ein „ganz normaler Junge“, nicht arm, aber auch nicht wirklich reich, der noch bei seiner Mutter lebt. Luca jobbt schwarz als Buchhalter in einer Druckerei, obwohl die Mama ihn lieber promoviert sähe. Nachts zieht er durch die Straßen und Bars von Rom. Luca ist eher introvertiert und hat, wie er nur seinem Tagebuch anvertraut, bisher wenig sexuelle Erfahrungen. Eigentlich ist er wohl heimlich in seine Nachbarin Magda verliebt, doch „das da“, sein „cazzo“ (Schwanz) existiert für Luca nun einmal als Verpflichtung auf einen anderen Kodex als den einer „ehrenwerten“ Beziehung. Der Kodex lautet Latin Lover und folgt einem platten Dualismus von Sex und Liebe. Frauen auf der Straße zu belästigen, auf Parties zu gehen, um Mädchen „aufzureißen“, das ist für Luca ehernes Machismo-Gesetz. Der ängstliche Junge hat mit Mama, den Männern um ihn herum, vor allem aber mit sich selbst dasselbe Problem: als Versager, als Niete dazustehen. „Zu vieles habe ich nicht bekommen“, meint er und wird, reichlich unversehens, „ein aus dem Käfig ausgebrochenes Tier“.

Eines Abends flüchtet sich Luca vor einem Gewitter in einen Hauseingang, als gerade eine – zufällig auch noch wunderschöne – Frau nach Hause kommt. Die hält ihn zunächst für einen Räuber und bietet ihm in ihrer Todesangst Geld und Schmuck an. Luca spürt vage, daß er etwas anderes will, tut „es“ beim ersten Mal jedoch noch nicht, aber „das Wissen, das sie sich mir ergeben hatte, daß ich ihr etwas antun könnte, egal was, war erregender als alles andere“. Mit misogyner Populärpsychologie wird Lucas anfängliches Schwanken zwischen Reflexion und Tat, dann seine Initiation zum Vergewaltiger unterfüttert: Männer müssen den Clown spielen und Frauen wie Göttinnen behandeln, „um dieses verdammte Loch benutzen zu können“, „nur um zu einem Fick zu kommen“. Frauen stellen sich zickig an, das ist nicht gerecht, und deshalb müssen sie bestraft werden. Luca kostet die nächtliche Angst der Frauen aus. Diese Angst, das Demütigen, „der Geruch des Sieges“ lassen ihn in Ominpotenzphantasien schwelgen, als er das erste Mal vergewaltigt. Ziemlich bald möchte er „allen den Arsch aufreißen“, denn „einer wird als Mann geboren und muß ficken, sobald er kann, sobald er sich aufrichtet, muß er ficken“. Für Frauen sei Sex zwar „kein wirkliches Bedürfnis“, aber vergewaltigt zu werden, glaubt Luca, finden sie insgeheim sicher geil. So philosophiert Luca über Sex und nichts Geringeres als „Schicksal“ und „Leben“, während er vor seinen Opfern immer drastischer den Psychopathen spielt, um sie vor Angst zu lähmen.

In der Beschreibung der Vergewaltigunsszenen spart Pellegrino kein Detail aus. Auf jeweils drei Buchkapitel kommt mindestens ein pseudopornographisches. Fatal, was aber daher kommt, daß hier nicht Mechanismen von Macht und Gewalt herausgearbeitet werden, sondern vielmehr die Literarisierung von Vergewaltigung betrieben wird – eben anhand jenes ominösen Tagebuchs, in dessen Darstellung der eigentliche, brutale Tathergang längst von den Phantasien und Projektionen des Täters – wie Pellegrino sie sich vorstellt – überlagert ist. Vergewaltigung wird so als Konsequenz von Vergewaltigungsphantasien dargestellt, aber diese Phantasien beziehen ihre Berechtigung bekanntlich daraus, daß sie nicht physisch vollzogen werden. Nicht nur das hat die Autorin unterschlagen.

Als Frau und mögliche Betroffene zieht Pellegrino sich bequem hinter ihren vermeintlich „männlichen Blick“ zurück – ein Blick, der die Männer einzig auf bedauerlich mutterdominierte und ihrem „cazzo“ ausgelieferte Geschöpfe reduziert. Irgendwann zu Ende des Buches schlägt Luca eines Nachts seine Nachbarin bewußtlos, um auch sie zu vergewaltigen. Das Mädchen erkennt seinen Vergewaltiger nicht, und Luca spielt sich als sein Retter auf. Er heiratet Magda, vielleicht weil sie vor der Tat noch Jungfrau war. Luca hört vorerst auf zu vergewaltigen und hofft auf Magdas Verständnis für seine nächtlichen Verbrechen, falls die jemals ans Licht kommen sollten. Der Schein von Ehrenhaftigkeit erfährt seine absurde Fortsetzung. Das alles ist widerlich bigott. Anna Maria Pellegrinos „Tagebuch eines Vergewaltigers“ ist ein schwer verzeihliches Buch, so schwer verzeihlich wie eine schlimme Lüge von jemandem, der vorgibt, wirklich und wahrhaftig die Wahrheit zu sagen.

Anna Maria Pellegrino: „Tagebuch eines Vergewaltigers“. Aus dem Italienischen von Ulrike Budde, Byblos-Verlag, 206 Seiten, geb., 34 DM