Überlebenskampf ohne Utopie

Weder Neoliberalismus noch Sozialismus: Im ausgehenden 20. Jahrhundert lechzt Lateinamerika nach sozialem Ausgleich – Zwei Bücher, die sich aufs interessanteste ergänzen  ■ Von Astrid Prange

Alles hat sich geändert, und doch ist alles gleich geblieben. Der Sozialismus „made in the USSR“ ist zusammengebrochen, die Berliner Mauer gefallen, der Neoliberalismus treibt enorme Blüten, und der Kapitalismus „made in USA“ triumphiert einsam vor sich hin. Und was macht Lateinamerika? Seit auf dem Kontinent keine ideologischen Grabenkämpfe und Stellvertreterkriege mehr ausgefochten werden, machen die „Latinos“, einmal abgesehen von der üppigen Drogenproduktion, kaum noch Schlagzeilen. Verdienstvoll ist daher die Bestandsaufnahme „Lateinamerika am Ende des 20. Jahrhunderts“, die jetzt in der Beckschen Reihe erschienen ist.

Um es gleich vorwegzunehmen: Es bleibt bei einer Bestandsaufnahme. Denn auch die neun verschiedenen AutorInnen, darunter Klaus Esser und Detlef Junker, sind ratlos, wie es auf dem südlichen Kontinent weitergehen soll. Ist der ständige Wechsel zwischen Diktatur und Demokratie sechs Jahre vor der Jahrtausendwende nun endgültig überwunden? Einig sind sich die Verfasser, darunter zwei Autorinnen, daß der Erfolg der Demokratie nicht an „sozioökonomische Faktoren gebunden ist“. „Trotz der sozialen Kosten der Strukturanpassung und des sehr begrenzten Wirkungsgrades der Sozialpolitik der demokratischen Regierungen ist es in den meisten lateinamerikanischen Ländern bislang zu keinen ernsthaften Gefährdungen der politischen Stabilität durch soziale Unruhen beziehungsweise Massenproteste gekommen“, schreibt Bernhard Thibaut, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg. Die brasilianische Erfahrung vom Herbst 1992 belegt diesen Trend: Obwohl Brasilien zu den Ländern mit extremer Einkommenskonzentration gehört, gelang es der jungen Demokratie, das Amtsenthebungsverfahren gegen Ex-Präsident Fernando Collor (1990–1992) innerhalb der institutionellen Bahnen durchzuziehen.

Dennoch haben die jungen Demokratien in Lateinamerika noch heute an den gewaltigen Erblasten der Militärdiktaturen zu knacken: Gigantische Staatsverschuldung und Inflation, Klientelismus, Korruption, ein überforderter Justiz- und Polizeiapparat machen dem Bürger die Demokratie nicht gerade schmackhaft. Die Armut großer Teile der Bevölkerung, so das Fazit des Buches, bedrohe zwar nicht die Demokratie an sich, doch sie verhindere das Entstehen einer demokratischen Kultur.

Die Frage ist, ob die Kombination aus Demokratie und Kapitalismus fähig ist, die dringend notwendige soziale Umverteilung auf dem Kontinent einzuleiten. Der mexikanische Autor Jorge Castañeda gelangt zu der resignierten Überzeugung, daß weder die exzessive Verstaatlichung sowie die Politik der Importsubstitutionen während der Militärdiktaturen noch der radikale Neoliberalismus, wie er heute in vielen Ländern Lateinamerikas praktiziert wird, die sozialen Indikatoren des Kontinents nachhaltig verbessert haben. Doch der Autor des vor kurzem erschienenen Standardwerkes für Lateinamerika „La utopia desarmada“ (Die entwaffnete Utopie) über das Dilemma der Linken in Lateinamerika bohrt weiter. Im Gegensatz zum deutschen Autorenteam fordert der Lateinamerikaner nicht nur mehr Sozialpolitik, er zeigt auch konkret, wie die Reform finanziert werden könnte.

Damit gelangt er schnurstracks zum Kernproblem lateinamerikanischer Politik: Die herrschende Schicht und somit auch die Politiker, die sie vertreten, haben sich bis jetzt mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, diesen Ausgleich vorzunehmen. Statt Steuern von wohlhabenden Bürgern einzutreiben, zog der Staat es stets vor, die Lasten der Allgemeinheit aufzudrücken. Als Einnahmequelle dienen der Obrigkeit noch heute hauptsächlich die sozial höchst ungerechten indirekten Steuern, die Privatisierung oder die Defizitfinanzierung, sprich: Inflation, eine extrem ungerechte Art der Umverteilung. Große Vermögen werden auch heute in Lateinamerika noch nicht besteuert.

Eine radikale Steuerreform nach europäischem Vorbild, wie Castañeda sie sich wünscht, hat nur einen Haken: Am Ende des vergangenen Jahrhunderts, als mit der Industrialisierung auf dem alten Kontinent langsam die notwendigen sozialen Ausgleiche begannen, waren die Kapitalströme noch nicht weltweit miteinander vernetzt. Angesichts der internationalen Mobilität ist der Zugriff des Fiskus heute weitaus schwieriger.

Der Strukturwandel im Süden ist Castañeda zufolge nur durch die pragmatische Zusammenarbeit der politischen Linken mit anderen aufgeklärten Sektoren der Gesellschaft möglich. Bei der Beeinflussung der politischen Willensbildung zur Änderung des Status quo kommt seiner Meinung nach vor allem den Gewerkschaften und den Nichtregierungsorganisationen eine enorme Rolle zu. Ein Denkanstoß, der in der Beckschen Reihe nur in dem Beitrag von Renate Rott zur Stellung der Frauen angerissen wird. Die Feminisierung der Armut in den sogenannten verlorenen achtziger Jahren habe zur politischen Aktivität des benachteiligten Geschlechts in Lateinamerika geführt. Doch das politische Engagement beschränkt sich nicht auf alleinerziehende Mütter. Bürgerbewegungen und -initiativen haben in den letzten zehn Jahren einen enormen Bedeutungszuwachs in Lateinamerika erfahren.

Als erfolgreiches Beispiel pragmatischer Verhandlungen zwischen Regierungs-, Industrie- und Gewerkschaftsvertretern zitiert Jorge Castañeda den historischen Pakt mit der brasilianischen Automobilindustrie im April 1992. Um die rezessionsgeplagte Industrie wieder in Gang zu bringen, erklärten sich die Arbeiter mit einem neunzigtägigen Gehaltsstopp einverstanden. Im Gegenzug garantierten die Automobilhersteller den Erhalt der Arbeitsplätze sowie einen Preisnachlaß von 22 Prozent. Die brasilianische Regierung reduzierte die Steuerlast pro Wagen um zwölf Prozent. Ergebnis: Die brasilianische Autoindustrie wuchs 1993 um 30 Prozent, ein Ende des Booms ist nicht abzusehen.

Der ehemalige Vorsitzende der mächtigen Metallarbeitergewerkschaft aus der Industrieregion São Bernado, Luis Inacio Lula da Silva, ist heute Präsidentschaftskandidat für die brasilianische Arbeiterpartei PT.

Als Lula vor fünf Jahren gegen den neoliberalen Ex-Präsidenten Fernando Collor de Mello antrat, ließ sich der Industrielle Mario Amato noch zu dem Kommentar hinreißen, im Falle eine PT-Sieges würden 800.000 Unternehmer das Land verlassen. Heute weiß der ehemalige Vorsitzende der Industriellenvereinigung von São Paulo (Fiesp), daß ein Schritt mehr in Richtung soziale Marktwirtschaft ihm selbst zu mehr Käufern und Konsumenten verhilft.

„Lateinamerika am Ende des 20. Jahrhunderts“. Hrsg. von Detlef Junker, Dieter Nohlen und Hartmut Sangmeister. Becksche Reihe 1062, München 1994, 273 S., 24 DM

Jorge Castañeda: „La utopia desarmada“. Verlag Ariel, Buenos Aires, März 1994, zweite Auflage. In Englisch: „Utopia unarmed“, Verlag Alfred A. Knopf, New York 1993