Die potentiellen Ethnotouristen

Der Urlaub für die in Deutschland lebenden Türken ist längst nicht mehr nur Heimkehr, sondern immer öfter die anonyme Pauschalreise  ■ Von Faruk Sen

Im Laufe der Zeit hat sich der Ausländeranteil in der Bundesrepublik Deutschland auf acht Prozent der Gesamtbevölkerung erhöht. Die Verbleibabsichten der Ausländer, insbesondere aus Nicht-EU-Staaten, steigen von Jahr zu Jahr. Die meisten Migranten in der Bundesrepublik kommen aus solchen Staaten, in denen der Tourismus eine bedeutende Rolle spielt – wie in der Türkei, Griechenland oder Spanien. All diese klassischen Entsenderstaaten leben sehr stark von exogenem Tourismus. Die Zahl der deutschen Touristen in Spanien, Italien, Griechenland, aber auch in den vergangenen Jahren in der Türkei steigt kontinuierlich. In den Staaten, in denen das Pro-Kopf- Einkommen relativ niedrig ist, spielt endogener Tourismus keine große Rolle, da die Einheimischen kaum die Möglichkeit haben, in ihrem eigenen Land richtig Urlaub zu machen. Daher sind diese Staaten sehr stark von exogenem Tourismus, nämlich von ausländischen Touristen, abhängig.

Nach 39jähriger Migrationsgeschichte, die mit dem Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien im Jahre 1955 begann, stellen wir fest, daß die Zahl der Ausländer, die jedes Jahr ihren Urlaub vollständig in ihrem Heimatland verbringen, abnimmt. Bis Anfang der achtziger Jahre haben fast alle in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Türken ihren sechswöchigen Urlaub hauptsächlich in ihrem Heimatland verbracht. Die gleiche Feststellung kann man für die anderen Nationalitäten auch machen. Durch die zunehmenden Verbleibabsichten und mit der zunehmenden Heterogenität der Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland ist festzustellen, daß die Ausländer je nach Altersgruppe und je nach ihrem Nettoeinkommen auch andere Urlaubsziele und andere urlaubsformen anstreben.

Nach den Untersuchungen des Zentrums für Türkeistudien haben im Jahre 1993 von 1.918.000 Türken in der Bundesrepublik Deutschland knapp 600.000 ihren Urlaub in der Türkei verbracht – dagegen fuhren aber auch knapp 100.000, hauptsächlich junge Türken, nach Italien oder Spanien. Die türkische Mittelschicht in der Bundesrepublik zog als Reiseziel die USA oder den Fernen Osten vor. Die meisten Türken verbringen ihre Ferien im Herkunftsland bei ihren Verwandten, Bekannten oder im Elternhaus. Die Reisen dauern im Schnitt sechs Wochen. Drei Tage benötigt man für die Hinfahrt mit dem Auto, und die letzten vier Tage sind für die Rückfahrt vorgesehen. Während die Türken auf dem Hinweg in ihr Heimatland ohne Unterbrechung mit dem Auto fahren, lassen sie sich auf der Rückreise mehr Zeit auf dem Weg durch Bulgarien, Griechenland oder das ehemalige Jugoslawien.

Im Laufe der Zeit, besonders seit den achtziger Jahren, haben sehr viele türkische Selbständige, die hauptsächlich sogenannte Heimflüge oder „Gastarbeiterflüge“ für ihre Landsleute in die Türkei angeboten haben, ihr Angebot umgestellt. Aus diesen Unternehmen, die fast ausschließlich auf Gastarbeiterflüge spezialisiert waren, sind heutzutage richtige Reiseveranstalter für die Türkei entstanden. Gegenwärtig bieten in der Bundesrepublik Deutschland 57 Reiseveranstalter die Türkei als Urlaubsland an. Von diesen Veranstaltern sind 19 türkischer Herkunft. Auch durch die Unterstützung dieser Reiseveranstalter stieg die Zahl der ausländischen Touristen in der Türkei von 724.000 im Jahre 1970 auf 6,5 Millionen im Jahre 1993. Unter diesen Touristen spielen die deutschen Touristen mit knapp 1,2 Millionen – dies entspricht einem Anteil von etwa 28 Prozent aller Touristen in der Türkei – eine wichtige Rolle. Nach den Anschlägen auf Urlauber ging vor allem die Zahl der deutschen Touristen drastisch zurück.

Bis 1989 haben die Türken, die in ihrem Heimatland Urlaub machen, nicht die Ferienanlagen in Anspruch genommen. Diese werden hauptsächlich von den anderen Touristen besucht. Die deutschen und türkischen Reiseveranstalter haben die türkische Minderheit bislang nicht als Zielgruppe gesehen. Zum ersten Mal hat man in diesem Jahr die türkische Bevölkerung in der Bundesrepublik als potentielle Ethnotouristen entdeckt, eben wegen der erhebliche Einbrüche im Türkeiourismus: Zum eiwegen der PKK-Anschläge auf Urlauber. Andererseits haben einige deutsche Touristen wegen ihres schlechten Gewissens den Türken gegenüber nach Mölln und Solingen Angst, in die Türkei zu fliegen, weil sie eine distanzierte Haltung von den türkischen Einwohnern befürchten. Deshalb bemüht man sich verstärkt, die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Türken für einen Urlaub in der Türkei zu gewinnen.

Nach der Kampagne „Ich verbringe meinen Urlaub in der Türkei – Kommen Sie mit!“ erwartet man in diesem Jahr von 465.000 türkischen Haushalten in der Bundesrepublik, daß mindestens 30 Prozent als Pauschaltouristen in ihrem eigenen Heimatland ihren Urlaub verbringen. Man kann davon ausgehen, daß die türkische Minderheit in Zukunft gemeinsam mit Deutschen in ihrem Ex-Heimatland ihren Urlaub verleben möchte. Für die Mehrzahl der Türken ist die Türkei zum ehemaligen Heimatland geworden. Nach einer Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wollen sogar 47.000 türkische Rentner auf Dauer in Deutschland leben. Es gibt nun Bemühungen, den türkischen Rentnern das Überwintern gemeinsam mit deutschen Touristen in der Türkei schmackhaft zu machen.

Bei der türkischen Minderheit, die langsam die Werte der Industriegesellschaft übernommen hat und sich von ihrem agrarisch geprägten Hintergrund löst, zeigt sich ein Wandel im Urlaubsverhalten. Die meisten türkischen Intellektuellen oder türkischen Firmeninhaber verbringen ihren Urlaub in den USA oder in anderen Staaten. Nach einer kleinen Umfrage bei der türkischen Minderheit konnte man feststellen, daß sehr viele türkische Jugendliche, die einen aufregenden Urlaub erleben möchten, nicht zur – nach ihrer Vorstellung langweiligen – türkischen Südküste fahren möchten, sondern Feriengebiete wie Ibiza oder Mallorca vorziehen.

Die zunehmende Heterogenität der Ausländer spiegelt sich auch in der steigenden Heterogenität der Urlaubswünsche wider. Von den 19 Türkeianbietern türkischer Herkunft wurde nun eine Kampagne entwickelt: Freie Plätze werden über türkische Zeitungen den türkischen Landsleuten angeboten. Man will diese Personengruppe motivieren, auch mit Deutschen zusammen in Urlaub zu fahren. Dies ist sehr reizvoll für viele Türken, die ihr Heimatland so in einer Gastgeberrolle in einer Ferienanlage oder in einem Robinson- Club erleben. In dieser Hinsicht bietet natürlich die türkische Infrastruktur in der Bundesrepublik Deutschland bessere Möglichkeiten als bei anderen Ausländergruppen. Neun türkische Tageszeitungen als Werbeträger für diese Möglichkeiten, 19 türkische Anbieter. Urlaub in der Heimat, nicht unbedingt im eigenen Dorf, dafür in Antalya im Fünfsternehotel „Falez“ oder im Robinson-Club „Maris“ in Marmaris. Man kann davon ausgehen, daß die türkische Minderheit, die nach den Deutschen die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe in der Bundesrepublik bildet, im Laufe der Zeit ein vergleichbares Tourismusverhalten zeigen wird wie die Deutschen.

Auf der anderen Seite wird die Türkei für sehr viele Türken im Bereich des Ethnotourismus als Land fortbestehen, in dem man geboren wurde. Das man jetzt aber als Tourist besucht und in dem man, wie die deutschen Touristen, jedesmal einen anderen Urlaubsort entdecken wird.

Zumindest von der türkischen Minderheit hat niemand vor 34 Jahren, als die ersten Türken nach dem Anwerbeabkommen im Jahre 1961 hierherkamen, damit gerechnet, daß sie im Jahre 1994 über eine Kampagne: „Ich verbringe meinen Urlaub in der Türkei – Kommen Sie mit!“, selber als Touristen in die Türkei fahren würden.