Das große Warten im Wendland

Drei Generationen der Anti-Atomkraft-Bewegung sitzen vor dem Tor zur Atomfabrik von Gorleben. Die Aktionen für den Tag X, der Tag, an dem der heiße Atommüll kommt, haben am Samstag begonnen  ■ Von Niklaus Hablützel

Daran hat fast niemand mehr geglaubt. Und jetzt ist es doch wieder wahr geworden. Sie zündet eine Zigarette an, das kann sie immer noch nicht lassen, obwohl sie doch längst über sämtliche Industriegifte dieser Welt Bescheid weiß. „Der Castor bringt Krebs“, steht auf einem Plakat. Vor dem Haupttor zum Atomzentrum stehen die Trecker, Bauern sitzen auf Strohballen, junge und ein paar alte, Kinder dazwischen, Mütter, Fahrräder und ein Tapeziertisch mit Büchern, T-Shirts und Buttons. Auch da ist einiges zusammengekommen in nunmehr achtzehn Jahren. Richtige Bücher gibt es inzwischen, promovierte Autoren in Hardcover, eine Marktübersicht über Windkraftanlagen, aber auch der gute alte Aufkleber mit dem Baum läuft gut: „Gorleben soll leben“, steht darauf. „Die Kids“, sagt sie, „schau dir die Kids an.“ Warum wir so lachen müssen wie seit Jahren nicht mehr, das wissen wir nicht. „So ist es eben“, sagt sie, „wie auf 1004.“

Sie war dabei. Wer genau weiß, was diese Zahl bedeutet, darf sich als Veteran fühlen. Sie könnte viel davon erzählen, vom besetzten Platz am Bohrloch 1004, von den Leuten, die sich an die Bäume gekettet haben. Aber diese Geschichte kürzen wir jetzt ab. Hinten im Wald werden wieder Holzhütten gebaut. Es ist ein Riesensommerspaß für Schüler und Schülerinnen, für Leute, die gerade mal keinen festen Job haben und sich einrichten für ein paar Tage. Oder auch für viele Wochen. Sie fangen nicht mehr von vorne an, müssen nicht buchstabieren, was ein AKW, eine Alpha-, Beta- oder Gammastrahlung ist, rechnen radioaktive Dosisleistungen locker in Millisievert hoch. Das ist die zweite und bald schon die dritte Generation von ungewöhnlich gut informierten Leuten.

Am späteren Nachmittag finden Beratungen vor den halbfertigen Hütten statt. Es ist empfohlen worden, Gruppen zu bilden und Delegierte zu wählen, es geht darum, einen langen Atem zu organisieren. „Wir könnten heute nacht mit Trillerpfeifen vor das Tor ziehen“, meint ein Junge. Sein Vorschlag weckt wenig Begeisterung. Nebenan wird zur Gitarre geknutscht. Und man sollte sich schon besser vorbereiten, meint ein anderer, Baumstämme bereitlegen neben der Zufahrtstraße zum Beispiel.

Kein Familientreffen ist das. Und geraucht wird hier selten. Sie, immer noch mit der Veteranenzigarette in der Hand, kennt nur noch wenige. Wo ist diese und wo ist jener geblieben? Nicht, daß sie wirklich fehlen, es sind ja genug andere gekommen. Und am Rand der Republik liegt Gorleben heute nicht mehr. Einer hat sich aus Thüringen auf den Weg gemacht, hat in der DDR Umweltgruppen organisiert, nach der Wende in Stendal gegen das geplante Atomkraftwerk demonstriert. Er will „mal sondieren“, sagt er, schaut sich um unter den Wessis und befürchtet, daß es viel zu wenige sind.

Vielleicht hat er recht, aber das ist ja nur der erste Tag. Der Wald ist weitläufig und die Straße gut gefüllt. Die Wendländische Kooperative verkauft biologisch angebautes Gemüse, die allerschwersten Trecker allerdings, die das Tor blockieren, scheinen sonst nicht in der Remise des alternativen Bauernhofes zu stehen.

„So muß das halt aussehen“, sagt sie noch einmal und zieht an der Zigarette. Die Riesenschüssel der Telekom ist damit nicht gemeint. Sie ist offenbar aufgestellt worden in Erwartung wichtiger Nachrichten, die augenblicklich in die Welt gesendet werden müssen. „Meinst du, daß eine Landesregierung sich einfach weigern könnte, die Polizei einzusetzen?“ Das glaube ich eher nicht, es gibt unter Umständen einen Rechtsanspruch der Betreiber von Atomkraftwerken. „Ja, ja, aber die Monika, die hat jetzt doch tatsächlich gefragt, ob wir denn wirklich blockieren wollen. Ist das nicht komisch?“

Es ist sogar unglaublich komisch. Auch Monika Griefahn gehört zu den kaum Vermißten, die heute nicht nach Gorleben gefahren sind. Sie hätte möglicherweise den Frieden dieses Tages gestört. In ihrer WG hing Lenin noch überlebensgroß im Treppenhaus. Und richtige Kader des Kommunistischen Bundes wohnten dort. Ganz dazu gehört hat sie aber vielleicht schon damals nicht, sie, die dann zu Greenpeace ging und jetzt Umweltministerin des Landes Niedersachsen ist. Natürlich hat sie die Bürgerinitiative besucht. Danach hat sie den Schröder angerufen, den Ministerpräsidenten. „Was soll ich jetzt tun?“ hat sie ihn gefragt, und wieder müssen wir lachen, weil wir ja nicht wissen, was der Schröder gesagt hat, und das Telefongespräch vielleicht auch nicht ganz genau so stattgefunden hat. Aber so ähnlich muß es einfach gewesen sein letzte Woche. Die beiden, der alte Juso und die Hamburger Linksradikale, haben heute ein Problem mit uns.

Besetzung mit Doppelkopf und schwarzem Block

Es sieht nur nicht aus wie ein Problem. Am schwarzen Brett für Mitteilungen von Aktionsgruppen, Suchanzeigen und Verhaltensempfehlungen im Falle gewaltsamer Polizeieinsätze hängt ein Zettel, der mehr als alle Transparente sagt über diesen Tag in Gorleben, den ersten von wahrscheinlich ziemlich vielen, die man hier zubringen muß, bis der Castor kommt. Oder auch nicht kommt, wer weiß das so genau? Schröder weiß es sicher nicht, Monika nicht, wahrscheinlich auch die Geschäftsführer der Badenwerke und der Energieversorgung Schwaben nicht, die darüber zu entscheiden haben. Sie wollen abwarten, was hier geschieht. Wenn sie lesen könnten, müßten sie alarmiert sein. Auf dem Zettel steht rot auf weiß: „Die LüneburgerInnen treffen sich auf der Wiese der BGL.“ Und darunter in Schwarz gekritzelt: „zum Doppelkopf“.

Solche Zeichen an der Wand sind es, die diese wie jede andere Landesregierung aus dem Tritt werfen. In Gorleben werden keine Schlachten geschlagen. Hier werden Hütten gebaut im Wald, und es wird Doppelkopf gespielt. Das jedoch auf der Wiese der BGL. Die Abkürzung steht für „Brennelemente-Lager Gorleben GmbH“, die gemeinsame Tochterfirma der großen deutschen Stromkonzerne, und die Wiese, auf der sich die LüneburgerInnen treffen, ist nichts Geringeres als das scharf bewachte Revier des Haupteingangs zur wendländischen Atomfabrik: ein kurzgeschorener Rasen vor dem ersten der zwei tonnenschweren Stahlgatter, die den Weg zu der Riesenhalle abriegeln, in der sich bis heute rein gar nichts befindet außer gekühlter Luft.

Militärgeschichtlich betrachtet, neigte die Atomindustrie schon immer zu mittelalterlichen Lösungen ihrer Sicherheitsprobleme. Auch die Anlage von Gorleben gleicht einer Festung mit Wall und Graben, unterbrochen ist der Ring durch den englischen Rasen am Haupttor, der den Platz nicht für die Belagerer, sondern für Gegenschläge der Verteidiger freigibt.

Auf diesem strategisch zentralen Glacis des Atomstaates also setzen sich heute Doppelkopfrunden zusammen. Andere demonstrieren mit einem Sonnenbad, zwei kleine Campingzelte sind auch schon aufgebaut. Die Besetzung hat begonnen. Es ging so leicht, daß manche noch gar nicht wissen, daß sie zu spät kommen. Aus einem Hinterhalt stürmen plötzlich etwa zehn schwarz vermummte Männer auf den Gartenzaun zu, der die Torwiese zur Straße hin begrenzt. Das Drahtgitter hält nichts aus, ein paar revolutionäre Fußtritte legen die erste Grenzlinie des Feindes flach, der Sturmtrupp entert den Vorplatz.

Verdutzt reibt eine junge Frau, die in der Sonne geschlafen hat, die Augen, schaut nach der Tasche und dem Fahrrad. Nichts ist geschehen, sie legt sich wieder hin. Und vor dem Tor bläst ein Blockflötenquartett seine lieblichen Weisen weiter. Die drei Damen und der Herr sind während des Sturmangriffs nicht eine Sekunde aus dem Takt gefallen. Selten haben wir eine solche Disziplin gesehen und lachen jetzt so laut, daß einer aus dem schwarzen Block ziemlich böse herüberschaut. Es gefällt ihm jetzt sowieso nicht mehr recht auf der Wiese, zu viele Leute sind schon da, der Endsieg muß woanders gesucht werden.

Polizisten stellen besorgte Fragen an ihren Minister

Auch die Polizei kümmert sich nicht um die Avantgarde. „Da wird noch mehr kaputtgehen“, meint ein höherer Dienstgrad. Da will auch sein Untergebener keinen Grund zur erkennungsdienstlichen Behandlung von unbekannten Personen sehen, die gegen ungefahr fünfzehn Gesetze verstoßen haben könnten, zu denken wäre an das Vermummungsverbot, an Sachbeschädigung, Landfriedensbruch und ähnliches. Nein, ihm gehen hier ganz andere Dinge durch den Kopf. „Uns sagt sowieso niemand was“, sagt er und hat schon viel über die Frage nachgedacht, wann er diese Arbeit hier nicht mehr mitmachen würde. Es sei schwierig, da eine Grenze zu ziehen. Auch über die Strahlung werde ja nichts Bestimmtes mitgeteilt. Fachleute des Umwelt- und des Innenministers haben in ein Papier geschrieben, junge und weibliche Polizeibeamte sollten den Transportbehälter für abgebrannte Brennstäbe nicht in unmittelbarer Nähe begleiten. Die Strahlung werde bei der Abfahrt aus dem Atomkraftwerk Philippsburg gemessen, hieß es da auch, die Kollegen, die den Transport beschützen müssen, sollten nach einer bestimmten Zeit ausgewechselt werden. Die Empfehlung ist dann doch nicht zum Beschluß erhoben worden, und das macht dem Lüchower Beamten nun gerade noch mehr Sorgen. Offenbar wird da nicht alles gesagt. Wie hoch ist die Strahlung wirklich? Im wendländischen Dorf, in dem er wohnt, wird viel darüber geredet, der Nachbar ist mit seinem Trecker hier. Sie grüßen sich. „Komm man zu Erdbeerkuchen rüber“, sagt der eine, „mit Sahne.“ Aber er kann nicht, zeigt auf die Dienstmütze. „Wär wohl besser, du könntest.“

Er könnte schon, heute geschieht hier nichts im Sinne des Dienstreglements und der Einsatzpläne, die schon bereitliegen für diesen ersten Transport von hochradioaktivem Material in das Dorf, das eine Legende ist. Am Montag wird es „ein wenig Ärger geben“, meint der nachdenkliche Polizist, „die müssen hier ja arbeiten.“ Fast könnte das vergessen werden. „Wir schieben dann beiseite.“ Was das heißt, ist auch dem Papier der beiden Ministerien nicht recht zu entnehmen. Gegen Blockaden mit „erkennbar symbolischem Charakter“, heißt es dort, solle die Polizei „deeskalierend“ vorgehen. In den Fällen nicht der symbolischen Art seien jedoch die Mittel des Rechtsstaates anzuwenden.

Wir lachen schon wieder, nur nicht mehr so fröhlich. Warum soll der Rechtsstaat bloß in den schweren und nicht vor allem in den leichten Fällen angewandt werden? Und woran ist der symbolische Charakter einer Demonstration zu erkennen? Die Unterscheidung selbst ist mit diesem Tag falsch geworden. Der Spaziergang zum Atomlager, die Hütten, Zelte und Liederkreise sind sehr friedlich. Symbolisch sind sie jedoch nicht gemeint. Gorleben ist tatsächlich besetzt.