Schnäppchenjäger kennen keine Grenzen

Alles ist auf dem „Polenmarkt“ zu haben, aber die Blechlawine bleibt im Westen  ■ Von Henk Raijer und Gunda Schwantje

Ob ich welche kenne da drüben? Na klar, meinen Leszek, da hole ich mir jeden zweiten Tag Butter, auch Brötchen und Fleisch. Meinem Mann bringe ich zwei Schachteln Zigaretten mit. Mehr dürfen wir ja nicht, hier im 15-km- Bereich.“ Frau Reinsch kauft nur noch „drüben“ ein, wie die meisten in Hohenwutzen. Jede hat drüben, in Niederwutzen, ihren Leszek, und der eigene ist stets der billigste.

Seit am 1. März 1993 die grüne Stahlbrücke über die Oder für den grenzüberschreitenden Verkehr freigegeben wurde, müssen Alte und Arbeitslose in dem kleinen Dorf im Nordosten Brandenburgs mit ihrem Einkommen nicht mehr so knapsen. Aber nicht nur die sozial Schwächeren, fast alle in der 850-Seelen-Gemeinde freuen sich über das Schnäppchenparadies jenseits der Grenze. Auf dem „Polenmarkt“ von Osinow Dolny, wie das benachbarte Niederwutzen seit 1945 heißt, kostet „unser Kaffee“ knapp drei Mark fürs halbe Pfund, ein Kilo Zucker 90 Pfennig. Eier gibt's für'n Groschen, Butter für 'ne Mark. „Total billig“ ist Kinderkleidung – und: bleifreies Super zu 89 Pfennige. So könnten die Hohenwutzener, sollte man meinen, mit der historischen Wende und dem Brückenschlag zum polnischen D-Mark-Mekka eigentlich ganz zufrieden sein. Wären da nicht die motorisierten Einkäufer.

An sieben Tagen in der Woche versackt der kleine Ort im Dauerstau, die Blechlawine, die aus dem „Speckgürtel“ rund um die Hauptstadt anrollt, staut sich oft bis ins drei Kilometer entfernte Hohensaaten hinein. Wer auf Nummer Sicher gehen will, Angst hat, „der Pole könnte während des Einkaufens mein Auto auseinandernehmen oder vielleicht sogar klauen“, der stellt sein Goldstück auf deutscher Seite ab. Drei Mark berechnet Heinz Reinsch für einen umzäunten Stellplatz gleich neben seinem Obst- und Gemüsegarten.

„An Großkampftagen drängeln sich bis zu neun Reisebusse auf meiner Wiese“, sagt der Vorruheständler. „Die kommen von Rügen, von Rostock, ja sogar weit aus dem Westen hierher, weil sie wissen, daß der Markt in Niederwutzen der größte ist.“ Am Pfingstsonntag hätten nach Zählungen des polnischen Zolls 25.000 Pkws die Brücke überquert, weitere 25.000 Fahrzeuge, schätzt Heinz Reinsch, stürzten auf der Suche nach einem „sicheren“ Platz das verschlafene Hohenwutzen in Agonie. Bei durchschnittlich drei Personen pro Pkw dürften auf diese Weise rund 150.000 Deutsche den Unternehmern am anderen Oderufer die kolportierten 14 Millionen Mark Umsatz beschert haben. Zwischen dem 1. März und Jahresende 1993 wurden insgesamt 3,6 Millionen deutsche Besucher registriert. Kein Wunder also, daß der Kreis Cedynia, zu dem Osinow Dolny zählt, inzwischen als der reichste Polens gilt. Dabei wiederholt sich das Muster alle 50 bis 60 Kilometer: Neben Hohenwutzen werden Städte wie Schwedt, Kietz, Frankfurt/Oder oder Forst tagtäglich von der Stauplage heimgesucht – das Geld machen die Nachbarstädte.

Auch heute wieder kriechen Tausende „Berliner“, wie im Ort die kaufwütigen Invasoren vereinfachend genannt werden, die Oderstraße entlang. Für die Hohenwutzener ist jeder Tag ein D- Day, ihr Dorf ist wahrscheinlich der einzige Ort in Deutschland, in dem Ampeln nicht an Straßenkreuzungen stehen, sondern alle paar hundert Meter künstliche Staulücken schaffen, um den entnervten Bewohnern der Oderstraße einige Momente Ruhe zu suggerieren. An der Brücke müssen die Teilnehmer der blechernen Prozession, von Konsumstau geplagt, leidvoll zusehen, wie der Bundesgrenzschutz die ersten Rückkehrer ohne Kontrolle weiterwinkt – vollbepackt, wie sie sind, mit Lebensmitteln, bunten Lamadecken, Ghetto-Blastern und wuchtigen Gartenzwergen. Ein junger BGS-Beamter findet das alles „ziemlich krank“. Aber auch er gehe selbstverständlich drüben tanken, „bei dem Preis“.

Haben die Grenzgänger nach mehrstündigem Stop-and-go die polnische Abfertigung überwunden, haben sie nichts Eiligeres zu tun, als sich in die nächste Schlange einzureihen. Um am Ende ein Gebäude zu betreten, in das sie bei sich zu Hause im Leben keinen Fuß setzen würden. Äußerlich ist die „Markthalle“ von Osinow Dolny eine mehrere zehntausend Quadratmeter umfassende Ruine. 1945 von russischen Granaten in Schutt und Asche gelegt, ragen von den meisten Gebäuden der ehemaligen Zellstoff-Fabrik nur noch schwarze Stümpfe in den Himmel. Doch der erste Eindruck trügt, das Einkaufszentrum in diesem rußigen Backsteingerippe ist perfekt organisiert. Wie die Kundschaft es gewohnt ist, kommen Käse, Gurken und Tomaten aus Holland, die Kartoffeln, der Kaffee aus der Bundesrepublik, die Eier aus Dänemark.

Der Zloty ist unerwünscht in Schnäppchenland

„Alles ganz sauber und ordentlich abgepackt, wie bei uns“, betont mit Nachdruck eine Frau, die aus Bernau zum Einkaufen kommt. Die Produktpalette ist scheinbar exakt auf die Bedürfnisse der ausländischen Kunden zugeschnitten. Gekauft wird nach einem einzigen Kriterium: „alles, was billiger ist als bei uns“ – kopierte Levi's-Jacken oder Diesel-Jeans sind zwischen 35 und 40 Mark zu haben, Reebok-T- Shirts, Pflanzen, Radfelgen, Musik-CDs, Kronleuchter zu 60 Mark, Radio- und Fernsehgeräte, Weingläser aus echtem Kristall, sechs Stück 25 Mark, Videokassetten, Computer, schnittige Sonnenbrillen. Das Steuerparadies Polen läßt grüßen.

An 240 Verkaufsständen auf zwei Etagen bietet der „Bazar“ des polnischen Großunternehmers Adam Sablotzki Geschmacksverirrungen jeglicher Größenordnung: ausgestopfte Füchse, Couchgarnituren, Katzenklos, Kunstwerke Marke Zigeunerin in Öl oder Bergmotiv von Kodak, Rehgeweihe, Plüschschonbezüge in modischem Tigerdruck, Gartenzwerge, Vögelkäfige, Plüschdinosaurier, Reizwäsche, Hundehütten – und, natürlich: Zigaretten, West, Marlboro, Karo, die Stange 16 Mark.

Die „Markthalle“ in der zerbombten Zellulosefabrik ist erst der Anfang. Anderthalb Kilometer weiter geht's erst richtig los. Auf mehreren Hektar drängeln sich an diesem sonnigen Nachmittag Zehntausende an insgesamt weit über dreitausend Verkaufsständen. Auf dem „Familienplatz“ ist der Zloty ausdrücklich unerwünscht, so mancher Händler bezeichnet die eigene Währung schon mal als Falschgeld, legt sich mit den Kunden an. „Aber auf den anderen Märkten nehmen die euer Geld doch auch“, empört sich einer, der durch den schwankenden Kurs zusätzlich „sparen“ möchte. Mensch und Tüte sind eins, in Massen gehen sie, auf beiden Straßenseiten. Wachschutz patrouilliert in schwarzer Kluft und Springerstiefeln, die Rauchschwaden aus den mobilen Imbißständen vermischen sich mit den Abgasen der Taxis – ein einziger Freiluft-Aldi, angereichert mit einer Dosis Jahrmarkt.

„Familienplatz“ und „Markthalle“ waren von Anfang an nie Provisorien. Als die 1957 wiederaufgebaute Brücke im vergangenen Jahr endlich geöffnet wurde, waren die Standplätze längst vergeben, mobile Toiletten installiert, die ersten Bruzzelbuden in Betrieb. Sogar die Grenzanlage hat, wie es heißt, nicht der polnische Staat, sondern der rührige Adam Sablotzki finanziert. Marktatmosphäre sucht man hier vergebens, Angebot und Ambiente sind von bedrückender Biederkeit. Die Preise sind fix, gehandelt wird nicht, Bier und Bratwürste allerorten, für Sicherheit ist gesorgt: Auch auf polnischer Seite sind die Parkplätze bewacht – hier jedoch gratis.

Nach Informationen des leitenden BGS-Beamten in Hohenwutzen, der das Geschehen auf der polnischen Seite mit Interesse verfolgt, sind die einzelnen Marktsegmente in wenigen Händen konzentriert.

Hinter den Händlern stehen West-Unternehmer

Die Gebühr für einen Standplatz betrage zwischen 350 und 500 Mark im Monat, weiß er. „Das können sich nur potente Unternehmer wie etwa der Sablotzki leisten, und hinter dem stehen immerhin vier deutsche und ein japanischer Investor.“ Hinter vielen Tischen stünden Lohnabhängige, die mit 10 bis 15 Mark am Tag abgespeist würden.

Und die Hohenwutzener? Die Bürger der ehemaligen DDR, die sich nur zu gerne an ihre wirtschaftliche Vormachtstellung im sozialistischen Lager erinnern, die für die Polen nichts als Verachtung übrig hatten? Die vermeintlichen Gewinner an der neuen Wohlstandsgrenze Europas? Auf dem Markt von Osinow Dolny verfestigt sich der Eindruck, daß nicht die „armen Polen“ die Verlierer sind, sondern die, die zwar mit harter Währung kommen, damit aber sehr umsichtig wirtschaften müssen. Anders als ihre Nachbarn jenseits der Oder gehören sie durch einen Streich der Geschichte zur Europäischen Union. Aber genau dieses vermeintliche Privileg bedeutet für sie der Ausschluß von der schnellen Mark – denn die machen die Polen. Was den Hohenwutzenern bleibt, ist Ärger, Lärm, Gestank und Dreck.

Die „Berliner“ sind verhaßt im Ort. So mancher Einheimischer geriet schon in einen handfesten Streit mit den staugestreßten Autofahrern vor seiner Haustür, nur weil er zur Arbeit wollte, aber die Ausfahrt blockiert fand. „In Spitzenzeiten ist von 7 bis 21 Uhr Alarm“, stöhnt Herr Boche, dessen Grundstück nur 30 Meter von der Brücke entfernt in der Oderstraße liegt. „Ganz benebelt ist man da am Abend.“ Stein des Anstoßes ist auch der Dreck, den die Pilger auf der deutschen Seite zurücklassen. „Der Pole verdient, und wir kriegen den Müll ab“, ärgert sich eine Passantin.

Ein Geschäft, so scheint es, macht in Hohenwutzen kaum einer mit der täglichen Invasion. Zwar beteuern die örtlichen Ladeninhaber, durch den „Polenmarkt“ bislang keine Einbußen verzeichnet zu haben. Aber so recht glauben mag man's ihnen nicht. Im Supermarkt findet man zu wenige Einheimische. Das einzige Café mit Terrasse liegt in der falschen Straße, der Imbiß in der Brückenstraße wartet auf bessere Zeiten. Auch Pendler, Arbeitslose, die sich auf polnischer Seite was dazuverdienen, gibt es keine. Nur Parkplatzbesitzer Heinz Reinsch kann nicht klagen. Am späten Samstagnachmittag ist sein Grundstück gut besetzt, und immer noch ziehen einige dem billigen Sprit die vermeintliche Sicherheit vor.

„Die Berliner verursachen der Kommune nur Ausgaben, es kommt nichts rein“, sagt Bürgermeister Kurt Wickidal. Vor seiner Amtsstube in der Chausseestraße zieht die Karawane unaufhörlich in Richtung Nadelöhr. „Wir stellen Container und Müllsäcke bereit, deren Entsorgung uns jährlich 10.000 Mark kostet. Auf allen Parkplätzen, auch den unbewachten, haben wir Toiletten aufgestellt: 20.000 Mark. Ganz zu schweigen von den zusätzlichen Arbeitskräften, die zur Müllbeseitigung herangezogen werden müssen: 30.000 Mark.“ Wenn bis August die neue Zufahrtstraße fertig ist, wird das Dorf, das mitten im Biosphärenreservat Schorfheide- Chorin liegt, einen Stauraum für bis zu 300 Pkws haben, „mehrspurig und mit elektronischer Ampelabrufanlage“. Ein Ende des Ausnahmezustands ist nicht abzusehen, im Gegenteil: Adam Sablotzki expandiert bereits, in Hohenwutzen sind schon weitere drei Hektar Land für Parkplätze vorgesehen. Wenn demnächst die neue Hauptstrecke fertig ist, werden die Anwohner der Oderstraße, so auch Herr Boche, von ihren Leiden erlöst. „Doch dann sind die nächsten dran“, sagt er. „Hat schon manch einer sprengen wollen, die Brücke.“