Anfang 1992 hat die taz, gemeinsam mit anderen europäischen Zeitungen, eine Briefkampagne für den von moslemischen Fundamentalisten mit dem Tode bedrohten Schriftsteller Salman Rushdie initiiert. Heute macht Rushdie selbst den Anfang zu einer Solidaritätskampagne, indem er in einem offenen Brief der gleichermaßen bedrohten Taslima Nasrin aus Bangladesch Mut zuspricht. Von Salman Rushdie

Sie haben nichts Unrechtes getan!

Liebe Taslima Nasrin,

sicherlich sind Sie es leid zu hören, Sie seien „der weibliche Salman Rushdie“ – das wäre ja auch ein seltsames und komisches Geschöpf! – während Sie sich doch die ganze Zeit für die weibliche Taslima Nasrin hielten. Es tut mir leid, daß Ihnen mein Name angehängt wurde, aber ich bitte Sie mir zu glauben: es gibt viele Menschen in vielen Ländern, die sich darum bemühen, hinter solchen Slogans Ihre Identität zu entdecken, die einzigartigen Merkmale Ihrer Lage zu verstehen und die Bedeutung des Kampfes zur Verteidigung Ihrer Person und Ihrer Rechte gegen all jene, die Ihr Tod mit Freude erfüllen würde.

In Wirklichkeit sind es doch unsere Feinde, denen einiges gemeinsam ist: sie scheinen an die göttliche Billigung von Lynchjustiz und Terrorismus zu glauben. Statt also aus Ihnen eine weibliche Ausgabe meiner Person zu machen, sollten die Schlagzeilenschreiber Ihre Gegner als „die bengalischen Iraner“ bezeichnen. Wie traurig, an einen Gott aus Blut zu glauben! Was für einen Islam haben sie zustande gebracht, diese Apostel des Todes, und wie wichtig ist der Mut, ihnen zu widersprechen!

Taslima, man hat mich gebeten, eine Serie Offener Briefe zu Ihrer Unterstützung zu eröffnen, Briefe, die in etwa zwanzig europäischen Ländern veröffentlicht werden sollen. Große Schriftsteller sind bereit, diese Kampagne für Sie zu unterstützen. Als solche Briefkampagnen zu meiner Unterstützung durchgeführt wurden, empfand ich sie als überaus stärkend und ermutigend, und ich weiß, daß sie dazu beigetragen haben, die öffentliche Meinung und die Einstellung der Regierungen in vielen Ländern zu prägen.

Ich hoffe, daß unsere Briefe eine ähnliche Beruhigung und Aufmunterung auch für Sie bedeuten werden, und daß sie einen nützlichen Druck ausüben.

Sie haben sich zur Unterdrückung der Frauen im Islam geäußert, und was Sie sagten, mußte gesagt werden. Hier im Westen gibt es zu viele wortmächtige Apologeten, die alle Welt von der Mär überzeugen wollen, in moslemischen Ländern würden die Frauen nicht diskriminiert; oder wo es doch geschieht, habe es nichts mit der Religion zu tun. Die sexuelle Verstümmelung von Frauen hat, will man dieser Argumentation glauben, keine Grundlage im Islam; in der Theorie mag das zutreffen, aber in Wirklichkeit findet sie in vielen Ländern, wo sie praktiziert wird, bei den Mullahs bereitwillige Unterstützung. Und dann sind da die zahllosen (und ungezählten) Gewalttaten in der Familie, die Ungleichheiten eines Rechtssystems, in dem die Aussage einer Frau weniger gilt als die eines Mannes, es gibt die Vertreibung der Frauen von den Arbeitsplätzen in allen Ländern, in denen die Islamisten an die Macht oder auch nur in ihre Nähe gekommen sind, und so weiter.

Sie haben auch etwas zu den Angriffen gegen Hindus in Bangladesch gesagt, nachdem hinduistische Extremisten die Ayodhya Moschee in Indien zerstört hatten. Aus diesem Grund haben Eiferer Ihren Roman „Lajja“ angegriffen, und aus diesem Grund gerieten Sie zuerst in Lebensgefahr. Aber jeder rechtschaffene Mensch würde einen religiös motivierten Angriff von Moslems gegen unschuldige Hindus für ebenso schlimm halten wie einen Angriff von Hindus auf unschuldige Moslems. Gegen diese einfache Rechtschaffenheit richtet sich die Wut dieser Fanatiker, und diese Rechtschaffenheit wollen wir verteidigen, wenn wir für Sie eintreten.

Sie werden angeklagt, weil Sie gesagt haben sollen, der Koran müsse überarbeitet werden (auch wenn Sie gesagt haben, Sie hätten sich lediglich auf die Scharia bezogen). Vielleicht haben Sie davon gehört, daß erst in der letzten Woche die türkischen Behörden eine Überarbeitung der Scharia angekündigt haben, so daß Sie wenigstens in dieser Hinsicht nicht allein stehen. Und ich möchte noch einen weiteren simplen Punkt nennen: selbst wenn Sie gesagt haben sollten, der Koran müsse revidiert werden, um seine Unklarheiten hinsichtlich der Rechte der Frauen zu beseitigen, und selbst wenn jeder moslemische Mann auf der Welt Ihnen widersprechen sollte, so bliebe Ihre Ansicht doch völlig legitim, und eine Gesellschaft, die Sie deshalb ins Gefängnis oder an den Galgen bringen will, kann sich nicht als eine freie bezeichnen.

Die Fundamentalisten behaupten immer, sie strebten die Klarheit an, aber in Wirklichkeit sind sie Dunkelmänner – in jeder Hinsicht. Klar und einfach ist es, wenn jemand sagen darf „Es gibt keinen Gott“, obwohl ein anderer sagt „Es gibt einen Gott“; wenn einer sagen darf „Ich hasse dieses Buch“, obwohl ein anderer sagt: „Mir gefällt es sehr gut“. Dagegen liegt ganz und gar keine Klarheit in der Behauptung, es gebe nur eine Wahrheit, eine einzige Art, diese Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, und eine Strafe (der Tod) für jeden, der dem nicht zustimmt.

Wie Sie wissen, Taslima, war die bengalische Kultur – und ich meine damit die Kultur von Bangladesch ebenso wie die des indischen Bengalen – immer stolz auf ihre Offenheit, auf ihre Freiheit zu denken und zu argumentieren, auf ihre intellektuelle Dialogbereitschaft, auf ihren Mangel an Bigotterie. Es ist eine Schande, daß Ihre Regierung sich auf die Seite der religiösen Extremisten geschlagen hat, in Widerspruch zu ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Zivilisation, ihren eigenen Werten. Die Bengalis haben immer gewußt, daß der freie Ausdruck nicht nur ein Wert des Westens ist; er gehört auch zu ihren eigenen großen Schätzen. Dieses Schatzhaus, das Schatzhaus der Intelligenz, der Phantasie und des Wortes, wollen Ihre Feinde plündern.

Ich habe Berichte gesehen und gehört, die über Sie die schrecklichsten Dinge zu erzählen wußten – Sie seien eine schwierige Frau, eine Befürworterin (O Schrecken aller Schrecken) der freien Liebe. Ich möchte Ihnen versichern, daß wir, die wir uns für Sie einsetzen, sehr wohl wissen, daß in solchen Situationen der Rufmord durchaus üblich ist und mit Mißachtung gestraft werden muß.

Und die Klarheit hat auch zu dieser Frage etwas Wertvolles beizutragen: auch schwierige Anhänger der freien Liebe müssen am Leben bleiben dürfen, sonst blieben uns ja nur jene, die daran glauben, die Liebe sei etwas, für das ein Preis – möglicherweise ein schrecklicher Preis – zu zahlen sei.

Taslima, mir ist klar, daß in Ihnen jetzt schreckliche Stürme toben müssen. In der einen Minute werden Sie sich schwach und hilflos fühlen, in der nächsten stark und trotzig. In der einen Minute glauben Sie, Sie stünden verraten und allein, und eine Minute später wird Ihnen klar, daß Sie für viele stehen, die Ihnen schweigend zur Seite stehen. In den dunkelsten Momenten empfinden Sie vielleicht, sie hätten wirklich ein Unrecht begangen – die Prozessionen, die nach Ihrem Tode schreien, träfen vielleicht die Wahrheit. Unter all Ihren Alpträumen müssen Sie diesen als ersten vertreiben. Sie haben nichts Unrechtes getan. Das Unrecht begehen andere an Ihnen. Sie haben nichts Unrechtes getan, und ich bin sicher: Sie werden bald frei sein.

Aus dem Englischen von Meinhard Büning