Der Trugschluß

■ „Der olympische Sommer“ startet: Vielschichtige Story in schwarzweiß

1936 versuchen die Nazis mit der Olympiade in Berlin der Welt noch lächelnd die Zähne zu zeigen. Die ganze Stadt ist ein Meer von Flaggen und Fahnen; Aufmärsche, Umzüge und Paraden sollen von friedlichen Feierlichkeiten zeugen. Die Faszination der Olympischen Spiele macht auch vor einem 16jährigen Fleischergesellen im ländlichen Pommern nicht halt. Lange, lange hat er sein Lehrgeld aufgespart, um sich ein gebrauchtes Fahrrad zu kaufen. Und das gibt ihm im Juli 1936 die Freiheit, Hof und Eltern zurückzulassen und in der Metropole sein Glück zu suchen. Diese Geschichte vom Aufbruch des jungen Fleischergesellen erzählt Gordian Maugg in seinem Film Der olympische Sommer, den er nach der Novelle Der Geselle von Günther Rücker konzipierte.

Und die besondere Art, auf die Maugg die Story erzählt, brachte dem 28jährigen Regisseur 1993 das Filmband in Silber und viele weitere Auszeichnungen ein. Wie in einem Stummfilm transportieren nicht die Dialoge den Fortgang der Handlung, Otto Sander spricht die Texte von Rücker aus dem Off zu den mal beschleunigten, mal verlangsamten schwarzweißen Bilderfolgen. Die Spielszenen drehte Maugg mit einer Askania-Kamera, Baujahr 1931, und montierte in den Film historische Bild- und Tondokumente.

Doch trotz der so erreichten optischen Nähe zwischen Spiel- und Dokumentaraufnahmen bleibt die geradezu ironische Distanz zwischen dem Leben des Jungen und den historischen Ereignissen: Der Geselle wird nicht Zeuge sportlicher Höchstleistungen. Die Olympiade war nur Anlaß für seinen Aufbruch, doch nur scheinbar unberührt von der Historie entwickelt sich sein Schicksal, das ihn nicht ins Stadion, sondern in die Arme einer schönen wohlhabenden Witwe führt. Im Feriendomizil am See lernt der Schlachter die Fleischeslust kennen, schreibt den Eltern, es ginge ihm gut und legt zum Beweis noch Geld dazu, während die Witwe über seinen kleinen, fast schon erwachsenen Betrug lächelt. Er kapselt sich in erotischer Verzückung vom Weltgeschehen ab, doch währt das Idyll nur bis zum Ende des Sommers. Abserviert von der Geliebten und gesättigt mit Erinnerungen, die die schönsten seines Lebens bleiben, zieht der gutmütige Geselle in die Stadt, kann sich durch gelegentliche Treffen mit der Witwe über Wasser halten, aber der Absturz naht. Er wird in ein „krummes Ding“ verwickelt, bekommt zwei Jahre Gefängnis, versteht nicht, wofür. Ein Ausbruchsversuch mißlingt, denn er hat nur gelernt, Tiere, aber nicht Menschen abzuschlachten. Auch hatte er nicht gelernt, sich in einem mörderischen System zurechtzufinden, dessen Aufstieg und Fall zunächst doch so unbedeutend für sein Leben schienen. Ein Trugschluß, wie das filmische Vexierspiel Der olympische Sommer zwischen Ironie und Tragik vor Augen führt.

Julia Kossmann

Abaton, Premiere mit Regisseur, heute um 20.15 Uhr, ab morgen täglich um 19 Uhr