"Wir legen uns weiterhin quer"

■ Die Räumung des am niedersächsischen Zwischenlager Gorleben aufgebauten Hüttendorfs kam für Umweltministerin Griefahn überraschend, der Kollege aus dem Innenressort gab sich ahnungslos; die Behörden vor ...

Die Räumung des am niedersächsischen Zwischenlager Gorleben aufgebauten Hüttendorfs kam für Umweltministerin Griefahn überraschend, der Kollege aus dem Innenressort gab sich ahnungslos; die Behörden vor Ort hatten's verfügt. Für die Atomkraftgegner, die passiven Widerstand leisteten, ist mit der gestrigen Räumung ihr Protest gegen die Ankunft des ersten hochradioaktiven Mülls im Lager keinesfalls beendet.

„Wir legen uns weiterhin quer“

Für Monika Griefahn war es diesmal wirklich eine Überraschung – wenn auch keine angenehme. Die niedersächsische SPDUmweltministerin saß gerade im Fernsehstudio, wollte im ARD- Morgenmagazin darlegen, warum Niedersachsen den Castor-Transport nach Gorleben ablehnt, als sie die Nachricht von der Räumung des Hüttendorfes erreichte. Die übergangene Ministerin konnte noch am Mittag nur beteuern, sie sei vor der Polizeiaktion nicht gefragt worden. „Auch bewerten kann ich die Räumung noch nicht, weil mir die notwendigen Informationen fehlen“, sagte sie.

Ahnungslos gab sich gestern auch das niedersächsische Innenministerium, das eigens wegen der Castor-Transporte mit dem Hause Griefahn eine interministerielle Arbeitsgruppe gegründet hatte. Man habe zwar davon gewußt, daß die Räumung geplant sei, den genauen Zeitpunkt aber nicht gekannt, sagte der Sprecher von Innenminister Gerhard Glogowski (SPD) gestern. Das Ganze sei Sache der Behörden vor Ort, wies der Ministeriumssprecher alle Verantwortung von sich. Sein Argument: Für die Genehmigung von Demonstrationen sei schließlich der Landkreis Lüchow-Dannenberg zuständig.

Offenbar in unbeschränkter Machtfülle hat der Landkreis gestern nicht nur die Räumung des Hüttendorfes angeordnet, sondern gleichzeitig bis zur Ankunft des ersten hochradioaktiven Mülls im Zwischenlager ein Demonstrationsverbot erlassen. Im Umkreis von etwa sechs Kilometern um das Zwischenlager soll bis zum Tag X nun das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht mehr gelten. „Es besteht für diesen Bereich zwar kein Zutrittsverbot“, sagte der Sprecher der Polizei in Lüchow gestern, „doch haben wir nun dort das Recht, jede Versammlung sofort aufzulösen.“

Nach Ansicht der Grünen im niedersächsischen Landtag stellt allerdings „dieser Versuch, auf nicht genau bestimmte Zeit ein weiträumiges Demonstrationsverbot zu erlassen, einen glatten Verfassungsbruch dar“. Die grüne Landtagsabgeordnete Rebecca Harms, die gestern in Gorleben weilte, mag nicht an die Zuständigkeitstheorie des Innenministers glauben. Für sie ist der Ministerpräsident politisch verantwortlich für diesen Polizeieinsatz. Gerhard Schröder habe sich gestern endgültig zum „Büttel des Atomfetischisten Klaus Töpfer“ gemacht.

Zur Landtagssitzung nach Hannover konnte die Abgeordnete Harms gestern nicht mehr rechtzeitig anreisen. Sie war bei der Räumung des Hüttendorfs von der Polizei zwecks Personalienfeststellung festgehalten worden. Die SPD-Landtagsmehrheit störte das allerdings nicht. Sie weigerte sich, die Tagesordnung des Parlaments zu ändern und über die Räumung in Gorleben auch nur zu reden.

Um vier Uhr morgens waren dort die Hundertschaften aus Lüchow-Dannenberg angerückt. 800 Polizisten räumten zunächst die Blockaden vor dem Eingangstor und der Zufahrtstraße zum Atomlager ab. Die etwa 400 Demonstrierenden ließen sich forttragen, zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam es nicht. Lediglich kleinere Rangeleien wurden beobachtet.

Trommeln schlagend und „Wehrt euch, leistet Widerstand!“ singend, gaben die Bewohner und Bewohnerinnen der „Zweiten Republik Freies Wendland“ der Polizei schließlich auch den Weg zum Hüttendorf frei. „Wir sind gefährlich“, keine Gewalt!“ riefen sie den vorrückenden Polizisten zu. Der Widerstand blieb meist passiv. Einige der Dorfbewohner waren auf die Dächer ihrer Holzhütten, andere auf Bäume geklettert. Sonderkommandos der Polizei holten sie herunter. Außer der Abgeordneten Harms wurden etwa 25 weitere Personen vorübergehend festgenommen und erkennungsdienstlich behandelt; einige von ihnen hatten sich körperlich gegen das Wegtragen gewehrt, andere hatten keinen Personalausweis dabei.

Kopfverletzungen erlitt ein fünfzehnjähriger Junge, als er von einem Turm stürzte, von dem aus er den Aufmarsch offenbar beobachtet hatte. Der Unfall ereignete sich kurz vor dem Einsatz der Polizei. Die Hütten selbst blieben stehen. Lediglich „leichtere Bauten“ seien beseitigt worden, teilte nach dem Einsatz ein Polizeisprecher mit. Für die massiveren Holzkonstruktionen müsse nun erst noch eine „Abrißgenehmigung“ eingeholt werden.

Es dürfte nicht ganz leicht sein, diese Erlaubnis zu erhalten. Der Landkreis hat nur ein Demonstrations- und Versammlungsverbot erlassen. Unbewohnte Holzhütten fallen nicht darunter – und überdies stehen sie in diesem Fall auf privatem Grund und Boden: Der Wald, in dem die zum Teil mehrstöckigen Bretterbuden aufgebaut worden sind, gehört dem Grafen von Bernstorff. Der adlige Grundbesitzer ist selbst Atomkraftgegner und führt seit Jahren Prozesse gegen die geplante Nutzung der Salzstöcke unter seinen Grundstücken als Endlager für radioaktive Abfälle. Die Holzhütten und auch die Zelte stehen mit ausdrücklicher Billigung des Grafen zwischen den Kiefern.

Gegen Mittag versammelten sich die meisten der Hüttenbewohner im nahe gelegenen Dorf Trebel. Sie waren in privaten Pkws dorthin gefahren, ohne daß es zu weiteren Konflikten mit der Polizei kam. Ein Polizeisprecher sagte, daß nun die Zufahrtstraße zum Atomlager repariert werde, die in den Tagen zuvor unterhöhlt worden war. Der Castor-Transport soll noch im Juli stattfinden, heißt es, in dieser Woche wird er jedoch nicht mehr erwartet.

In Trebel berieten die Demonstrierenden über die Fortsetzung des Protestes, mit dabei auch die 81 Jahre alte Elisa Kauffeld. Die Aktionen sollen weitergehen. „Wir legen uns auch weiterhin quer“, faßte ein 23jähriger Student aus Hannover die Stimmung unter den Versammelten zusammen.

Vergeblich war bis zuletzt der Versuch geblieben, die Räumung des Hüttendorfes durch einen Eilantrag an das Verwaltungsgericht Lüneburg noch abzuwenden. Die eigentliche Räumungsverfügung hatte der Landkreis mit einer langen Liste von Straftaten begründet, die angeblich aus dem Hüttendorf heraus begangen worden seien. Insgesamt seien Schäden im Wert von mehreren hunderttausend Mark entstanden. Die Besetzer des Waldes wollen sich allerdings diese Vorkommnisse keineswegs anhängen lassen. Die Liste der „Untaten“ umfaßt nur die Ereignisse vom Wochenende, an dem viele Demonstranten von außerhalb angereist waren. Diese Auswärtigen, so schrieb die Rechtsanwältin Ulrike Donat an das Verwaltungsgericht Lüneburg, seien inzwischen wieder abgereist. Daß die Bewohner des Hüttendorfs sich möglicherweise klammheimlich über die Aktionen vom Wochenende gefreut hätten, sei noch kein Räumungsgrund, argumentiert die Anwältin.

Landtagsabgeordnete der Grünen werfen der Landesregierung vor, sie habe mit der Räumung des Hüttendorfs ihre zuvor angekündigte „Deeskalationsstrategie“ aufgegeben. In einem gemeinsamen Papier waren das Umwelt- und das Innenministerium des Landes übereingekommen, „die Mittel des Rechtsstaates“ nur dann in vollem Umfang einzusetzen, wenn die Blockade des Castor- Transportes „erkennbar nicht mehr symbolischen Charakter“ habe. Von dieser Absichtserklärung blieb nur übrig, daß die Polizeibeamten gestern ohne Schutzhelme und Schilder aufmarschierten. Die Landesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Gisela Altmann, sagte, wieder einmal habe der Landkreis Lüchow-Dannenberg bewiesen, „daß ihm die Interessen der Atommafia heilig, die demokratischen Rechte der Atomkraftgegner gleichgültig sind“. J. Voges und N. Hablützel