Der Buddha aus der Vorstadt

Man lebt nur zweimal: Die wundersame Bekehrung des wildherzigen Bassisten Jah Wobble  ■ Von Christoph Wagner

Nicht die Schlagzeuger, die Bassisten sind die eigentlich Vergessenen des Popbetriebs. Während die Frontleute der Bands, die Sänger und Gitarristen, im Scheinwerferlicht stehen und den Ruhm einheimsen, gehen ihre Begleiter meist leer aus. Als Rhythmuslakaien belächelt, als Grundtonknechte verspottet, stehen die Ärmsten im Bühnanabseits, und selten nur nimmt jemand Notiz von ihnen.

Auch wieder ein Klischee? Aber eines, an dem was dran ist. Ganz wenigen Bassisten nur ist es gelungen, aus der Anonymität ihrer Gruppe herauszutreten oder zum echten Star zu werden. Paul McCartney und Sting sind zwei Ausnahmen, auch Sid Vicious und Jack Bruce bestätigen bloß die Regel. Schlechte Zukunftsaussichten für den Baßjob, sollte man meinen.

Bradford, Nordengland. Die üppigen Balustraden und Deckenleuchter der altehrwürdigen Queens Hall erzählen noch von besseren Tagen. Im tristen Garderobenraum treffe ich vor seinem Konzert einen Musiker in abgeschabten Jeans und blaukariertem Holzfällerhemd; später wird er im grünen Seidenanzug und mit Hut auf der Bühne stehen.

Unter 100 Hertz

Der Mann behauptet, von Anfang an vom Baß fasziniert gewesen zu sein, mehr noch: „Ich war von Baßfrequenzen richtig besessen – total! Alle um mich herum waren das damals. Bässe – wow! Das hat uns auf Trab gehalten. Ich war noch kein Musiker, und Bluebeat, woraus später Reggae wurde, war das große Ding. Wir haben uns riesige Anlagen besorgt und die Bässe richtig aufgebläht. Dieses Dröhnen aus der Tiefe, diese ungeheuer mächtigen Schwingungen – wir waren vollkommen verrückt danach.“

Jah Wobble hebt beim Erinnern leicht ab. Damals hieß er noch John Douglas, war ein waschechter „Cockney“, der tagsüber auf den Märkten im Londoner Osten Obstkisten herumtrug und Hundefutter auspackte, um nachts in den Kneipen des East End die Sau rauszulassen. An der Schwelle von Punk zu „New Wave“, muß es auch gewesen sein, daß Douglas sich für Auftritte in den Hinterzimmern der Pubs eine Baßgitarre beschaffte. Und dann ging alles wie im Zeitraffer. Plötzlich lag ein Angebot von Johnny Rotten alias John Lydon auf dem Tisch, der ihn für Public Image Ltd. haben wollte, die Nachfolgeband der Sex Pistols. Die Chance seines Lebens! Fortan gaben wuchtige Baßläufe dem Sound von PIL einen stabilen Unterbau, der die auseinanderdriftenden Elemente aus Postpunk, Geräuscheinblendungen und Weltmusik-Fragmenten zusammenhielt.

Über Nacht war aus dem Nobody ein Star namens Wobble geworden, auf den sich die Medien stürzten und der auf einmal haufenweise Geld besaß. Doch mit dem schnellen Ruhm kam auch die rasante Wandlung zum waschechten Kotzbrocken – Alkoholexzesse und Stargehabe inklusive. Bis heute hängt ihm sein Rüpel-Image nach, obwohl er längst zu zivilisierteren Umgangsformen gefunden hat. Nur selten noch lehrt er seine Mitmenschen das Fürchten: so bestellte er neulich den Reporter einer großen englischen Tageszeitung zum Interview in die Sauna.

Der Weg nach unten

Nach zwei Platten war Wobble fertig mit PIL. Unter eigenem Namen spielte er in den folgenden Jahren eine Reihe von Platten ein, die von der Kritik mit wahren Lobeshymnen bedacht wurden. Trotzdem ging es mit Wobble steil bergab. „Mit 28 war endgültig Schluß“, erinnert er sich. „Ich war ganz unten angelangt, befand mich dauernd im Delirium, war launisch, rauflustig, ein ziemliches Arschloch und hatte es mit allen verschissen. Ich stand ohne Schallplattenvertrag da, ohne Band, ohne Manager. Niemand wollte mehr mit mir arbeiten. Ich stand vor der Wahl, entweder weiterzumachen und zu verrecken oder einen radikalen Kurswechsel zu vollziehen.“

Wobble hängte seinen Musikerberuf ganz an den Nagel, versuchte seiner Suchtprobleme Herr zu werden, und schaute sich nach einem stinknormalen Job um. Nach Jahren des Chaos sehnte er sich nach Ruhe und Normalität, nach einem ganz gewöhnlichen Leben mit Frau und Kindern und einer geregelten Arbeit – die er auch bald bei der Londoner Untergrundbahn fand. Er genoß die täglichen Routinen, freute sich auf den Feierabend und bildete sich mit Erfolg zum U-Bahn-Fahrer weiter.

Nur allmählich kehrte die Mu

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sik wieder in sein Leben zurück. Wenn er des Nachts, den Walkman auf, als Streckenkontrolleur die endlosen U-Bahn-Schächte abschritt, war Salif Keita sein Begleiter...

Transzendentaler Baß

Dann kam die Sache mit der Religion hinzu. Wobble befaßte sich mit östlicher Philosophie, Worte wie „Anima“ und „Karma“ gelangten in seinen Wortschatz. Gelegentlich nahm er auch wieder seine Baßgitarre zur Hand, die langsam zum Fixpunkt seines zweiten Lebens wurde. „Alle Straßen führen zum Baß. Er verknüpft den Rhythmus mit den Harmonien und der Melodie. Er bietet eine Plattform für Solos. Er ist der Punkt, wo die Fäden zusammenlaufen. Er schafft sowohl ein Fundament als auch einen Rahmen.“

Der Baß als transzendentales Meditationsobjekt: Was Wobble zuvor eher erfühlt hatte, nahm nun klare Konturen an. Kreischende Gitarrensoli, hüfthohes Rockmusikantentum – das alles war ihm plötzlich nur noch Inbegriff einer neurotischen Kultur des Westens. Ein Gegenmodell fand er in der dumpfen Baßkontrapunktik jamaikanischer Dub-Bands, in afrikanischer Kora- und Trommelmusik sowie den Klängen des Orients, ein Modell, das auf Kontemplation und Transzendenz abzielte und seinem seelischen Bedürfnis nach einer spirituellen Dimension entsprach. „Im Orient, in Afrika oder Indien ist die Musik in Gesellschaften eingebettet, die religiös geprägt sind. Alles hängt mit allem zusammen: Religion-Kultur-Musik. Mit solchen himmlischen Klängen kann man keine Autos, Hamburger oder Jeans verkaufen. Dazu braucht es profane Musik, wie sie die angloamerikanische Tradition des Rock 'n' Roll darstellt. Jede Gesellschaft bringt die Musik hervor, die sie benötigt.“

Nach einer Auszeit von zwei Jahren meldete sich ein vollkommen gewandelter Jah Wobble Ende der achtziger Jahre auf der Szene zurück – mit einer neuen Band, die er „Invadors of the Heart“ nannte. Es war nicht einfach gewesen, geeignete Musiker für dieses Projekt zu finden, denn die Klänge, die ihm vorschwebten, stellten hohe Ansprüche. Immer wenn er in sich hineinhorchte, hatte er diese fremde und rätselhafte Musik vernommen, die aus Asien, Afrika und dem Orient herüberzuwehen schien und Körper und Geist in einer idealen Balance hielt. „Musik nur für den Kopf ist nicht genug. Ihm fehlt die Leibdimension. Liebe, Leidenschaft, Feuer und Sinnlichkeit – das alles gehört zur Spiritualität dazu. Das Ein guter Fick ist für mich spirituell“, erläutert der Buddha aus der Vorstadt seine Einsichten, um aufs Stichwort hin gleich klarzustellen: „New Age hat aus der Spiritualität einen esoterischen Humbug gemacht: die Flucht aus der Realität. Für mich dagegen ist Spiritualität ein Pfad in die Wirklichkeit und ein Weg zu ihrem Verständnis.“

Justin Adams, der Gitarrist der Invaders, hat die arabische Musik als Diplomatensohn im Mittleren Osten von klein auf mitbekommen. In Wobbles Konzept agiert er weniger als großer Experimentator denn als Impressionist, der entweder interessante Klangtupfer zu setzen weiß oder mit exotischen Tonskalen aufwartet. Stets gilt es, die passenden Sounds bereitzuhalten für den wagemutigen Stilmix. Aus Reggae und Dub, Rai und Salsa, Folk und Jazz, Pop und Klassik bezieht Wobble die Bausteine, aus denen er eine universale Popmusik bastelt.

Das erfordert Geduld und Disziplin, wie sie nur ein Perfektionist von hohen Graden aufzubringen vermag. Volle eineinhalb Jahre hat Wobble über seiner neuesten Platte „Take me to God“ gebrütet. Immer wieder wurden neue Ideen ausprobiert, für gut befunden und dann wieder verworfen, an kleinsten Details wurde zuweilen stundenlang herumgefeilt. Manchmal hielt sich Gitarrist Justin Adams ganze Tage im Studio bereit, um dann gerade mal fünf Minuten zu spielen.

Um Wobbles globaler Dorfmusik noch mehr Klangfarben zu geben, wurden prominente Gäste geladen – darunter Jaki Liebezeit, Ex-Schlagzeuger von Can.

Unglaubliche Rhythmustracks

Als sich abzeichnete, daß das Produktionsbudget üppig genug sein würde, zögerte Wobble nicht lange und ließ Liebezeit aus Germany einfliegen, der zuerst die Studiomannschaft mit wundersamen Einlassungen irritierte („Ich bin nicht am Klang des Schlagzeugs interessiert, nur an der rhythmischen Formation“), um danach mit Wobble ein paar „unglaubliche Rhythmustracks“ (Justin Adams) einzuspielen.

Neben dem neuen Star des irischen Pop, der Cranberries-Sängerin Dolores O'Riordan, ist auch der senegalesische Vokalist Baaba Maal zu hören. Wobble hatte ihn schon seit längerem für einen speziellen Vokalpart im Auge und verpflichtete ihn, als er gerade in London war, sofort. Baaba Maal sang auf die fertigen Bänder, sein Trommler steuerte einen Rhythmus auf dem Talking Drum bei.

Die lange Produktionszeit, die Island-Records gewährte, hat dem Album gutgetan. Die Musik klingt ausgereift, gleichzeitig ist sie tanztauglich und verfügt über fast hitparadenverdächtige Melodien. Vielsprachiger, engelhafter Gesang gibt den mysteriös-versponnenen Liedtexten den Charakter geheimnisvoller Zauberformeln.

Trotzdem sieht sich Wobble Lichtjahre vom Rock-Mainstream entfernt, dem er immer noch nicht allzu viel Positives abgewinnen kann. Wenn er auf Rockfestivals spielt, kalkuliert er seine Zeit scharf. Er erscheint erst kurz vor dem Auftritt, um danach gleich wieder zu verschwinden. Hard- und Heavy-Sound – „ein Haufen Schrott“, bricht es im Cockney- Slang aus ihm heraus. „Da höre ich mir lieber das Brummen meines Kühlschrankes an oder genieße den Sound eines Düsenjets beim Fliegen. So wunderbare Frequenzen.“

Jah Wobble »Take me to God« (Island Records)