Tabuisiert und unsichtbar

Prostitution ist in Marokko ebenso verboten wie verbreitet / Eine Anti-Aids-Initiative macht Straßenarbeit  ■ Aus Fes Antje Bauer

Die Nacht senkt sich auf Fes. Am Bab Ftouh, dem Haupttor zur Altstadt, stehen eng nebeneinander verstaubte Busse, um die sich Reisende mit riesigen Bündeln drängen. Kinder balancieren Tabletts voller frittierter Süßigkeiten auf dem Kopf. Auf einer winzigen Schiefertafel neben dem Schalter der Busgesellschaft, durch eine nackte Glühbirne schwach beleuchtet, stehen mit Kreide die Reiseziele der Busse angeschrieben: Tunis, Algier, Kairo.

Nur wenige Schritte von dem Menschengewühl am Bab Ftouh entfernt, in den Seitengassen der Altstadt, werden die Holztüren vor die schmalen Geschäfte geklappt. Hier und da sitzen noch Schneider in ihrem Büdchen und steppen mit weitausholenden Bewegungen hellblaue, glänzende Bettdecken. Statt des Scharrens von Hunderten Schuhen, das den ganzen Tag die engen Gassen erfüllt, sind nun einzelne Schritte zu unterscheiden. Eine junge Frau in hellblauer Dschellaba, dem bodenlangen Umhang mit Kapuze, spaziert vorbei. Wer genau aufpaßt, sieht, daß sie wenige Minuten später wieder da ist, scheinbar ohne äußeren Grund. Daß ein Mann sie anspricht, der zu interessiert dreinschaut, um ihr Ehemann oder Bruder zu sein. Daß sie zu aufreizend lacht. Die Frau antwortet den Fragen des Mannes, dann geht sie. Er rückt frustriert den Inhalt seiner Hose zurecht und verschwindet. War wohl zu teuer.

Mit etwas Geduld ist auch festzustellen, daß die drei Jugendlichen an der Ecke ebenfalls auf jemanden zu warten scheinen. Unablässig taxieren sie die männlichen Passanten, warten. Es sind Prostituierte. Als solche erkennbar sind sie nur für Eingeweihte. Ihr Beruf ist in Marokko verboten.

„Ich habe früher in dem Viertel gewohnt, und ich kannte die Frauen dort. Doch als ich mit der Straßenarbeit begann, wußte ich nicht, daß viele der scheinbar normalen Hausfrauen in Wirklichkeit Prostituierte waren“, erinnert sich Latifa Iman. Als Mitglied der Organisation „Association Marocaine de Lutte contre le Sida“ (ALCS) – „Marokkanische Vereinigung zum Kampf gegen Aids“ – setzte sich Latifa monatelang in einem Altstadtviertel von Casablanca in ein Café, von dem sie wußte, daß sich dort die Prostituierten ausruhen, und versuchte, mit diesen Schattenwesen der Gesellschaft Kontakt aufzunehmen. Latifa klärte die Prostituierten über Aids und Ansteckungswege auf, verteilte Informationsbroschüren und Kondome. Schließlich bildete sie zwei Prostituierte aus, die nun ihre Aufklärungsarbeit im Viertel übernommen haben.

Viele Prostituierte, stellte Latifa fest, sind Frauen, die von ihren Ehemännern verstoßen wurden und keine andere Möglichkeit sehen, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu verdienen. Sie verlassen das Haus morgens zu den normalen Arbeitszeiten, arbeiten in einem anderen Stadtviertel und kehren abends zurück. Ihre Nachbarn glauben, daß sie putzen gehen. Auch Schülerinnen und Studentinnen gehen hin und wieder auf den Strich, um sich neue Klamotten kaufen zu können oder zu Hause etwas zum Lebensunterhalt beitragen zu können. In Kleingruppen warten sie in Cafés darauf, angesprochen zu werden. Am oberen Ende der Prostitutionsleiter stehen die Callgirls, die Geschäftsleute bedienen. Am unteren Ende die alten, verwahrlosten Frauen, die für zwanzig Dirham, knapp fünf Mark, einem finanzschwachen Kunden in einer dunklen Häuserecke einen blasen.

Prostituierte sind die Hauptzielgruppe, an die sich die ALCS wendet. Die ersten Aids-Fälle, die in Marokko 1987 bekannt wurden, waren meist drogenabhängige Ausländer oder Marokkaner, die sich in Europa mit dem Virus angesteckt hatten. Doch inzwischen nimmt der Anteil der heterosexuellen Männer, die sich im Land selbst durch außereheliche – häufig homosexuelle – Kontakte anstecken, zu.

Hakima Himmich ist Oberärztin an der Infektionsabteilung des Unikrankenhauses Ibn Rochd in Casablanca, wo die Mehrzahl der marokkanischen HIV-Infizierten behandelt werden. 1988 gründete sie die Vereinigung ALCS, mit dem Ziel, die marokkanische Gesellschaft über Aids aufzuklären und der Krankheit vorzubeugen. Fünfzig aktive Mitglieder hat die Organisation, die zum Großteil unbezahlt arbeiten. In allen größeren marokkanischen Städten unterhält sie ein Informationszentrum, in dem Kondome und Broschüren ausgegeben und Blutproben für anonyme und kostenlose Aidstests entgegengenommen werden. Vorbeugung durch Partnertreue und geschützten Verkehr und Solidarität mit den Kranken lauten die Ziele der Vereinigung. Zwangstests werden abgelehnt: Als die Polizei ihr die Opfer einer Razzia brachte, damit sie den Aidstest an ihnen durchführe, schickte Hakima Himmich die Ordnungshüter mitsamt ihren Opfern wieder weg und beschwerte sich beim Gouverneur. Das Gesetz hatte sie auf ihrer Seite: Es gibt in Marokko offiziell keine Zwangstests und keine Isolierung von Aids-Infizierten.

ALCS ist regierungsunabhängig und finanziert ihre Kosten aus – völlig unzureichenden – Mitteln, die die Weltgesundheitsorganisation WHO, die Europäische Union und einzelne ausländische Organisationen bereitstellen. Auch Benefizkonzerte sollen die Kassen füllen helfen.

In Casablanca, dem Hauptsitz der Vereinigung, hat ALCS von der medizinischen Fakultät einen Raum zur Verfügung gestellt bekommen. Die Fakultät liegt fast schon am Stadtrand. Täglich werden 600 Präservative umsonst abgegeben. Die marokkanische Regierung legt ALCS zwar keine Steine in den Weg: Der Gesundheitsminister ist Ehrenvorsitzender. Doch die staatlichen Zuwendungen sind knapp bemessen. Gerade mal 1.000 DM waren es 1993.

ALCS-Mitglieder halten an Schulen Informationsveranstaltungen ab, machen Fernsehbeiträge über Aids, ja, sie kümmern sich sogar um die Kranken. Mehr als die Hälfte der marokkanischen Aidskranken werden bei Frau Himmich im Unikrankenhaus von Casablanca behandelt. Zwölf Aidskranke hat sie zur Zeit auf der Station. Aus Platzmangel liegen sie häufig mit anderen Kranken in einem Saal, die an ansteckenden Krankheiten leiden.

Mohammed war zum Studium in Frankreich. Dort hat er zu fixen begonnen, hat gedealt, sich mit Aids angesteckt. Vor einigen Jahren ist er nach Marokko zurückgekehrt, ins Dorf seiner Eltern. Hat dort Haschisch geraucht und herumgesessen. Arbeit fand er keine. Dann brach die Krankheit aus. Heute hat er Tuberkulose und Aids im Endstadium. Dünn wie ein Streichholz, schlurft er hustend durch den Gang des Krankenhauses. „Meine Geschwister leben alle in Frankfurt“, sagt er. „Meine Eltern sind alt und gebrechlich. Seit ich hier bin, seit sechs Wochen, habe ich sie nicht gesehen. Sie warten darauf, daß ein Anruf kommt und man ihnen sagt, daß ich in den Himmel gekommen bin.“ Nun wartet Mohammed ab: daß er entlassen wird oder stirbt.

„Die Zahl der Aidskranken ist in letzter Zeit stark gestiegen“, klagt Himmich. Hinter ihrem Schreibtisch im Sprechzimmer hängt ein Schild, darauf steht: „A woman's place is every place.“ Freundlich, aber resolut hält sie die Station auf Trab. „Die Leute hier glauben noch immer, daß Aids eine Homosexuellenkrankheit ist und sie nichts angeht. Aber die meisten Aids-Infizierten sind inzwischen bisexuelle Männer.“

So tabuisiert homosexuelle Beziehungen in Marokko sind, so verbreitet sind sie auch. Viele brave Familienväter gehen ab und an zum Stricher. Auch weibliche Prostituierte müssen für anale Praktiken herhalten. Dadurch wächst das Infektionsrisiko erheblich. Meist, so die Erfahrung von Himmich, teilen die Betroffenen ihrer Frau nicht mit, daß sie sich infiziert haben. Manche heiraten erneut: eine Jungfrau, in der Hoffnung, deren „Reinheit“ werde sie von der Krankheit befreien. So steigt die Zahl der infizierten Frauen und damit die der Kinder, die mit dem Virus geboren werden. „Die Frauen sind meist resigniert“, stellt Hakima Himmich fest. „Aber sie pflegen ihre Männer aufopferungsvoll bis zum Tod, selbst wenn sie wissen, daß sie von ihnen angesteckt wurden.“

Amin Boushaba beginnt seine Tätigkeit um Mitternacht. Langsam flaniert er die Boulevards auf und ab, setzt sich mal in ein Straßencafé und schaut um sich, guckt in eine Disco oder wagt sich in einen dunklen Park. Amin tut unter männlichen Prostituierten, was Latifa Iman für die weiblichen macht: Aufklärungsarbeit über Aids, kostenlose Verteilung von Kondomen. Die Laternen im Park sehen ausgefranst aus, sie leuchten nicht. „Die Prostituierten zerschlagen sie, um ihre Ruhe zu haben“, sagt Amin. Auf den großen Boulevards außenherum rauscht der Verkehr, im Park ist keine Menschenseele zu sehen. Er ist übel beleumdet. Ein Wagen fährt langsam die Straße entlang, bremst. Aus dem Gebüsch lösen sich zwei Gestalten, beugen sich ans Seitenfenster, nach kurzem Gespräch fährt der Wagen weiter. Hier arbeiten nur männliche Prostituierte.

„Die meisten fangen schon mit 14 an“, sagt Amin. „Sie kommen zu Hause nicht mehr klar, weil sie schwul sind. Aus dem gleichen Grund bekommen sie keine Arbeit.“ Auf dem Strich herrscht das Gesetz des Dschungels. „Manchmal nimmt ein Kunde einen mit, und zu Hause warten dann zehn andere Männer auf ihn, die ihn vergewaltigen“, weiß Amin. Wehren kann sich der Stricher nicht: Die Polizei ist auch hinter ihm her. Manchmal legen die Stricher einen Kunden rein und nehmen ihn im Park aus. Eine Haßliebe, bei der letztlich der Prostituierte der Schwächere ist.

Diejenigen, die marokkanische Kunden haben, gelten als echte Homosexuelle, da sie den passiven Part innehaben. Die Kunden selbst empfinden sich als Heteros, die mit Homos schlafen. Selbstschutz vor dem gesellschaftlichen Stigma. Als andere Gruppe gelten die männlichen Prostituierten, die mit Touristen schlafen: Die bezahlen nicht nur besser, sie sind darüber hinaus passiv und erlauben es den marokkanischen Schwulen, sich weiterhin als Mann zu definieren. „Marrakesch ist voll von Schwulen“, sagt Amin, der dort Feldforschung betreibt. „Aber sie bezeichnen sich alle als Heteros, weil sie mit Touristen gehen.“

Khalid gehört zur passiven Gruppe. Seinen pummeligen Körper hat er in ein enges T-Shirt und Jeans gezwängt. Als er den gutaussehenden Amin sieht, ergreift er sofort zärtlich seinen Arm. Um mit ihm zu sprechen, ziehen wir uns in eine dunkle Ecke in einer unbefahrenen Seitenstraße zurück. Die Angst vor der Polizei ist allgegenwärtig. Die Geschäfte gehen schlecht. Nur einen Kunden hat Khalid diese Nacht gehabt, für 200 Dirham. Das ist das mindeste, was er einem Polizisten zahlen muß, der hier auftaucht, damit der ihn nicht auf die Wache mitnimmt.

Khalid hat nichts gelernt und keine Zukunftsperspektiven. Vor acht Jahren, mit 18, hat er begonnen, sich zu prostituieren: „Zunächst nur, weil es schnell verdientes Geld war“, wie er zugibt. Dann ist er nach und nach hineingeschlittert. „Ich hasse es“, sagt er langsam und resigniert, „aber mir bleibt nichts anderes übrig.“ Sparen kann er nichts: Was ihm an Geld übrigbleibt, braucht er, um die Polizei zu bestechen, um den Arzt zu bezahlen, wenn er mal krank wird, um sich, wenn er nach einer Razzia im Gefängnis landet, dort Essen kaufen zu können... Irgendwann möchte er einen kleinen Handel mit Kosmetikartikeln aufmachen. Woher er das Geld dafür nehmen wird, weiß er nicht. Daß er sich in seinem Job mit Aids anstecken kann, nimmt er fast als gottgegeben hin. „Es macht mir Angst“, sagt er, „aber ich kann die Kunden nicht zwingen, Kondome zu benutzen. Sie denken dann, ich sei krank. So werde ich mich wohl irgendwann mal anstecken.“

Khalid gleitet ins Dunkel des Parks. Amin drängt: „Laß uns von hier verschwinden, da vorne steht eine Gruppe junger Männer, die sehen so aus, als ob sie Streit suchen.“ Auf dem Boulevard rauschen Autos vorbei, in Straßencafés sitzen Männer und trinken den letzten Kaffee. Familien mit kleinen Kindern spazieren nach Hause. Nur wenige Meter entfernt liegt fast unsichtbar die andere Seite der Nacht.