Unendliche Geschichte vom Sparen und Schröpfen

■ Bundesregierung verabschiedet heute den Haushaltsentwurf 1995 / Weitere Kürzungen in fast allen Bereichen geplant / SPD wirft Waigel Bilanzfälschung vor

Berlin/Bonn (taz) – „Das Sparen“, gab Theo Waigel schon vor Wochen als Devise aus, „ist auch 1995 noch nicht zu Ende.“ Gestern lüftete der Bonner Kassenwart das sorgsam gehütete Geheimnis: Die Staatsausgaben sollen im kommenden Jahr auf 484,6 Milliarden Mark begrenzt werden – eine Steigerung um nur ein Prozent. Die Nettoneuverschuldung wird jedoch mit knapp 69 Milliarden Mark wieder das Niveau des Vorjahres erreichen. Diese Eckwerte sieht der Haushaltsentwurf 1995 vor, der heute vom Kabinett verabschiedet wird. Bei der auf kurzfristige Entlastung angelegten Kürzungsaktion kommt auch diesmal niemand ungeschoren davon, vor allem die Ressorts Wirtschaft (minus 14,5 Prozent), Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (minus 7,5), Landwirtschaft (minus 6) sowie Bildung und Wissenschaft (minus 1,6) müssen kräftig Substanz lassen.

Den Rotstift ansetzen will der Bundesfinanzminister aber vor allem dort, wo ihm die Milliarden angeblich unkontrolliert durch die Finger rinnen: bei der Bundesanstalt für Arbeit. Die Zuschüsse werden von 17,6 Milliarden Mark auf 14,8 Milliarden zusammengestrichen; die Arbeitslosenhilfe soll vom nächsten Jahr an auf zwei Jahre befristet werden. Erwerbslose, die zwar eine Ausbildung, aber noch keine Beschäftigung haben, werden künftig überhaupt keine Mark mehr aus Nürnberg erhalten.

Von Sozialabbau will man aber im Finanzministerium nichts hören, schließlich hätten sich die Ausgaben für Sozialleistungen seit 1989 auf 178 Milliarden Mark fast verdoppelt. Allein der Etat des Arbeitsministers steigt um 1,3 Prozent auf 131,59 Milliarden Mark und bleibt der mit Abstand größte Einzeletat; jede dritte Mark wird inzwischen für soziale Aufgaben ausgegeben. Die SPD-Opposition sieht das freilich anders und kündigte ihren erneuten Widerstand gegen die geplante Begrenzung der Arbeitslosenhilfe an, die schon im letzten Jahr im Bundesrat auf der Strecke geblieben war.

Doch nicht nur das: Für den SPD-Haushaltsexperten Helmut Wieczorek ist der präsentierte Etatentwurf schlicht eine Bilanzfälschung. Die Finanzplanung sei unvollständig, weil sie künftige Belastungen verschweige; außerdem werde das wahre Ausmaß der finanziellen Aushöhlung wichtiger Politikbereiche wie Wohnungsbau und Bildung kaschiert. Und selbst mit dem 1995 wiedereingeführten Solidarzuschlag, der rund 26 Milliarden Mark bringen soll, betrage die Neuverschuldung nicht 68,7, sondern gut 80 Milliarden Mark. Der Rest werde in Schattenhaushalten versteckt. Dabei hatte noch Waigel großspurig angekündigt, von 1995 an gebe es keine Nebenfisci mehr. Die einigungsbedingte Kreditaufnahme bei Treuhand (Defizit: rund 275 Mrd. DM) und Fonds Deutsche Einheit (Verbindlichkeiten: rund 95 Mrd. DM) wird zwar beendet, die Schulden aber drücken, wie das Restsondervermögen Bahn (60 Mrd.), der Kreditabwicklungsfonds (140 Mrd.) oder die DDR-Wohnungsaltschulden (59 Mrd.) weiter auf das Budget. Die harte Realität hält sich nicht an Waigels Schönfärberei: Für den Schuldenstand von rund 1,6 Billionen Mark muß der Bund 98 Milliarden nur für Zinsen bezahlen. Damit geht jede fünfte Mark für die Tilgung des finanzpolitischen Scherbenhaufens drauf. Erwin Single

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