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Eine haarige Angelegenheit

Wie die Genialität aus dem Schopfe in die Füße rutschen kann und warum der Verlust von Locken notgedrungen mit der Bedeutungslosigkeit des Mittelfeldes einhergeht  ■ Aus Los Angeles Matti Lieske

Roberto Baggio ist mehr als nur ein im höchsten Maße ergötzlicher Fußballspieler. Der 27jährige aus Turin ist einer der letzten Vertreter der ballbewegenden Zunft, der seine Mission nicht nur darin sieht, das Spielgerät möglichst schnell und häufig ins gegnerische Tor zu transportieren, sondern durch seine bloße Erscheinung dem Streben nach Kreativität und Individualität Ausdruck verleiht. Baggios Pferdeschwanz ist Italiens Rapier auf dem Weg zum Weltmeistertitel.

Nicht nur beim biblischen Samson, auch bei den Fußballspielern der Neuzeit spielt die Haartracht eine oft verkannte, aber um so gewichtigere Rolle, die weit über den Stadionrand hinauswirkt. Günter Netzers wehende Mähne wurde längst zum Synonym für glorreiche Kickerkunst und rebellische Attitüde, Johan Cruyffs dünnbehaarter Hinterkopf stattete Generationen von DDR-Auswahlangehörigen mit dem Nackenspoiler aus, die legendäre Matte des Argentiniers Ayala versorgte in den 70er Jahren die langbehaarten Außenstürmer aller Altersstufen mit ihrem Spitznamen, und selbst die Münchner Bayern versuchten damals, durch Koteletten bis zur Kinnspitze ihre langweilige Spielweise zu kaschieren.

In den Achtzigern kam der endgültige Durchbruch. Die voluminösen Frisuren von Diego Maradona, Ruud Gullit und Carlos Valderrama schufen völlig neue Identifikationsmöglichkeiten für ganze Fan-Nationen. Die Perücke absolvierte ihren Siegeszug durch die Stadien, allein der prächtige Schopf signalisierte, wer der Boß auf dem Platz war, die Gegner erstarrten in Ehrfucht. Nur die Schweden, Norweger und Dänen mußten sich in Ermangelung spektakulärer Haarkonsistenzen Wikingerhörner aufsetzen. Damit sie in dieser albernen Tracht niemand erkannte, malten sie sich die Gesichter in ihren Nationalfarben an.

Maradonas Friseurbesuch vor der WM 1986 signalisierte bereits erste Zerfallserscheinungen, die WM 1994 brachte den endgültigen Niedergang der Fußballerfrisur. Die großen Pelusas des Weltfußballs – Gullit (ausgerissen), Maradona (geächtet), Valderrama (entzaubert) – landeten auf dem Müllhaufen der Sportgeschichte, die verbliebenen Rastahäupter – Cobi Jones, Henri Larsson, Gaston Taument – kamen über eine Reservistenrolle nicht hinaus.

Ein möglicher Ehrenretter der Dreadlocks, der Kameruner Jean- Claude Pagal, durfte gar nicht erst mit. Die neuen Heroen geben frisurmäßig absolut nichts her. Wer würde sich schon eine Yordan- Letschkow-Perücke aufsetzen?

Keineswegs zufällig ging der Verlust der äußeren Einzigartigkeit mit dem Bedeutungsschwund des Mittelfeldes einher. Bei allen vorhergegangenen Weltmeisterschaften waren die großen Stars stets die Denker und Lenker im Mittelfeld. Von diesen konnte in den USA nur der Rumäne Gheorghe Hagi bestehen, die Protagonisten der WM aber waren die Stürmer. Ein Wandel, der als Indiz für vermehrten Angriffsfußball durchaus positiv ist, aber auch seinen traurigen Aspekt hat. Kein Zico mehr, kein Socrates, kein Platini, kein Michel, kein Antognoni, kein Maradona, kein Gascoigne, kein Gullit, kein Schuster.

Geblieben ist nur Roberto Baggio, der lockige Buddhist, der lange Haare liebt, sie aber zum Pferdeschwanz binden muß, „weil sie sonst in alle Richtungen wegstehen würden“. Er ist eine „Neuneinhalb“, wie Karlheinz Rummenigge in einem lichten Moment sagte, eine Mischung aus Stürmer und Mittelfeldregisseur. Ob das gegen die Brasilianer reicht, ist eine andere Frage. Die können – Frisur hin, Frisur her – einfach Fußball spielen.

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