Der Bundeshaushalt als Wahlkampfthema

■ Begrenzung der Arbeitslosenhilfe treibt 300.000 Arbeitslose zum Sozialamt / Proteste von Opposition, Ländern und Kommunen / Etatplan 1995 verabschiedet

Berlin/Bonn (taz) – Rechenkünstler Theo Waigel (CSU) hat es wieder einmal geschafft: Kaum liegt der Haushaltsentwurf für das kommende Jahr auf dem Tisch, schon gibt es Ärger. Bereits die Ankündigung des Bonner Kassenwarts, die Bezieher von Arbeitslosenhilfe nach zwei Jahren in die Sozialhilfe abzuschieben, genügte, um die Verteidiger des Sozialstaats auf die Barrikaden zu rufen. Damit will Waigel rund 4,3 Milliarden Mark einsparen, 1996 sollen es gar 6,5 Milliarden sein.

Die Bundesregierung wolle damit den Sozialabbau fortsetzen, kritisierten Rudolf Scharping und der stellvertretende SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine die im Haushaltsentwurf 1995 vorgesehene Kürzung. „Es gehe nicht an, daß Länder und Kommunen die Bonner Kassenlöcher stopfen“, fügte der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD) hinzu. Unterstützung erhielten die SPD-geführten Landesregierungen auch von CDU- Amtskollegen: Derartige Pläne werde er nicht mittragen, warnte Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Bernd Seite. Älteren Arbeitnehmern, deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt gering seien, so Bernhard Vogel, Landesvater von Thüringen, könne kaum erklärt werden, wieso sie künftig Sozialhilfe in Anspruch nehmen müßten. Vor drastischen Mehrbelastungen der Kommunen warnte auch der Deutsche Städtetag: Was der Bund sparen würde, müßten dann die kommunalen Sozialämter bezahlen; dies könne zu weiteren Abgabenerhöhungen und Leistungskürzungen führen.

Rund 300.000 Arbeitslose werden von April nächsten Jahres an den Gang zum Sozialamt antreten müssen, wenn es nach den Plänen der Bundesregierung geht. Doch daß es tatsächlich soweit kommt, ist äußerst unwahrscheinlich. Einen Gesetzentwurf für das höchst umstrittene und schon einmal am Veto der Länder gescheiterte Vorhaben will die Ministerriege erst zu Beginn der nächsten Legislaturperiode vorlegen – wenn sie dann noch im Amt ist. Der aufziehende Wahlkampf hat anscheinend auch das Rechenwerk Waigels geprägt: Bereits gestern verkündete der Finanzminister, er sei für Alternativen mit demselben Spareffekt (4,3 Milliarden Mark) jederzeit offen. Und Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) forderte die Länder gar auf, andere Vorschläge zur Vermeidung der „schmerzlichen“ Kürzung zu machen.

Die neuerliche Debatte um den sozialen Kahlschlag bringt für Waigel & Co. einen weiteren Vorteil. Der Mut des Bonner Kassenwarts, das unpopuläre Thema Arbeitslosenhilfe wieder auf die Tagesordnung zu setzen, lenkt prächtig vom eigentlichen Problem ab. Denn herausgekommen ist bei dem Haushaltsentwurf, der Ausgaben in Höhe von 485 Milliarden Mark und eine Neuverschuldung von 69 Milliarden vorsieht, nicht viel mehr als eine neuerliche Notoperation, die allenfalls formal die Vorgaben der mittelfristigen Finanzplanung erfüllt. Daß das Zahlenwerk lange hält, glaubt ohnehin kaum jemand. Der Bundestag berät das Paket zwar Anfang September in erster Lesung, nach der Bundestagswahl muß der Etat jedoch noch einmal neu ins Parlament eingebracht werden, bevor er endgültig verabschiedet werden kann.

Dann wird es nicht nur eine neue Steuerdebatte, sondern auch eine erneute Diskussion über den Umbau des Sozialstaats geben. Schließlich ist der mit Abstand größte Einzelposten der Etat des Bundesarbeitsministeriums, der mit 131,6 Milliarden Mark allein 27 Prozent der Staatsausgaben verschlingt. Die gesamten Aufwendungen für Soziales betragen 1995 laut Entwurf 177,6 Milliarden Mark, das sind immerhin 37 Prozent des Haushalts. Allein die Einheits-bedingten Kosten einschließlich des Zuschusses zur Arbeitslosenversicherung werden auf 46,5 Milliarden Mark beziffert – damit wurden für Arbeitsmarktpolitik seit 1991 insgesamt gut 180 Milliarden Mark von West nach Ost gepumpt. Erwin Single