„Nehmen Sie sofort die Neger vom Hof“

Ein 21jähriger Asylbewerber aus Angola stürzte vom Baugerüst – vermutlich war es Selbstmord / Vor zwei Jahren hatte er bereits einen Selbstmordversuch begangen  ■ Von Dorothee Winden

Der Freitag morgen, an dem Gabriel Juliäo Mavonda aus dem Flüchtlingsheim auf das Baugerüst des Nachbarhauses stieg, war drückend heiß. Die letzten Tage hatte der 21jährige Angolaner Kopfschmerzen gehabt, kaum geschlafen. Bauarbeiter sahen ihn auf dem Gerüst herumklettern, als sie zur Arbeit kamen. Kurz darauf fanden sie den reglosen Körper auf dem Bürgersteig.

Den Sturz aus zwölf Metern Höhe hat niemand gesehen. „Keiner konnte sagen, ob er gestolpert ist oder sich hinuntergestürzt hat“, sagt ein Polizeisprecher. Aber es laufe auf Selbstmord hinaus. „Er soll depressiv gewesen sein.“ Die Obduktion ergab, daß er „unter erheblichem Medikamenteneinfluß“ stand. Am Vortag hatte ihm der Arzt wegen seiner Schlafstörungen ein Schlafmittel verschrieben. Nachmittags war er zu Heimleiterin Lydia Yassin ins Büro gekommen. „Er sagte, es ginge ihm nicht gut. Ich hatte ein komisches Gefühl und habe mich mit ihm für Freitag morgen verabredet.“ Douglas, der seit sechs Jahren mit ihm befreundet war, fand ihn am Donnerstag im Flüchtlingsheim in der Schöneberger Bülowstraße im Bett liegend vor. „Er hatte was an den Nerven, weil er zuviel nachgedacht hat“, sagt Douglas. Seit Januar besuchten sie einen berufsvorbereitenden Kurs in Kreuzberg. „Er hatte keine Hoffnung, eine Ausbildung machen zu können. Er hatte keine Perspektive und immer die Drohung im Nacken, irgendwann nach Angola zurückgehen zu müssen“, sagt Douglas. Zu seiner Lehrerin Margarete Stöber sagte Juliäo einmal: „Was soll das Leben hier, immer zu sitzen und zu warten.“ Nicht nur die unsichere Zukunft zerrte an den Nerven, sondern auch die kritische Lage im Heimatland: Allein 1993 kamen im angolanischen Bürgerkrieg 100.000 Menschen ums Leben. Seit zwei Jahren lebte Juliäo in dem Heim, das zwischen einem Sexkaufhaus und einer Spielhalle liegt. Vor dem Eingang lungern Junkies herum. Die Nachbarn beschweren sich wegen jeder Kleinigkeit. Da fallen Sätze wie: „Nehmen Sie sofort die Neger vom Hof.“ Vieles deutet darauf hin, daß Juliäo seine Sorgen vor seiner Umgebung verborgen hielt. Einem Zimmernachbarn, der ihn an dem Freitag morgen traf, sagte er, er hätte eine Erkältung, aber sonst ginge es ihm gut. „Er war völlig verschlossen. Es war schwer, an ihn heranzukommen. Er hat nie über seine Probleme geredet“, sagt Heimleiterin Lydia Yassin.

In der Schule hat er „am Anfang den Coolen raushängen lassen“, sagt Margarete Stöber. „Er war laut, wollte im Mittelpunkt stehen. Das legte sich dann. Ich habe gedacht, er fühlt sich wohl bei uns.“ Ein Mitschüler beschreibt ihn als „Schauspieler“: „In der Klasse hat er viel Spaß gemacht, aber wenn er draußen im Gang war, war er ganz anders.“

Es scheint, als hätte es eine Grenze gegeben, jenseits derer ihn niemand erreichen konnte. Nicht einmal seine Freunde wissen, was vor seiner Flucht in Luanda geschehen ist. Seine Mutter ist tot, von dem Vater, einem Soldaten, haben sie gehört, daß er „verrückt“ geworden ist. Ein Bruder lebe in Brasilien. Juliäo floh vor sechs Jahren als Fünfzehnjähriger ganz allein in die Bundesrepublik. Im Dezember 1988 stellte er einen Asylantrag, der – wie seine Freunde sagen – abgelehnt wurde. Seitdem wartet er auf eine Entscheidung über seinen Widerspruch. Am 20. September wäre seine Aufenthaltsgestattung ausgelaufen. Da das Asylverfahren noch nicht abgeschlossen war, wäre sie aber wieder um ein halbes Jahr verlängert worden. In Berlin gibt es derzeit schätzungsweise 200 angolanische Asylbewerber. Bis zum 1. November gilt bei etwaigen Abschiebungen nach Angola eine Einzelfallprüfung. Eckharth Barthel, ausländerpolitischer Sprecher der SPD, geht davon aus, daß derzeit „niemand abgeschoben wird“.

„Es hieß einmal, vor zwei Jahren sei Juliäo von der Abschiebung bedroht gewesen“, sagt die Heimleiterin. Ist es Zufall, daß in diese Zeit sein erster Selbstmordversuch fällt? Juliäo wollte im dritten Stock des Wohnheims aus dem Fenster springen. Einem Freund, der in das Zimmer kam, gelang es, ihn wieder hereinzuziehen. „Ich habe damals fast täglich mit ihm geredet“, sagt Heimleiterin Lydia Yassin. „Ihm fehlten Wärme und Geborgenheit, oft nahm er während des Gesprächs meine Hand, dann wurde er ruhiger.“ Als er seine Freundin Christine kennenlernte, hätte sich alles „positiv entwickelt“. Die 17jährige besuchte ihn fast jeden Tag im Heim. Die beiden machten Zukunftspläne, wollten heiraten. Sogar den Namen für das erste Kind hatten sie schon ausgesucht. Für die Sommerferien hatten sie Pläne geschmiedet, und am Samstag sollte Juliäo mit ihren Eltern segeln gehen. Christine glaubt nicht an einen Selbstmord, sondern an einen Unfall. Dorothee Winden