Neue „Werte“

■ betr.: „Rote Karte statt roter Teppich“ etc., taz vom 8.7.94

„Halleluja, die Chinesen sind da“, hallt es aus den Reihen von Wirtschaft und Politik nach dem Einsacken von Milliardenaufträgen. [...] Die erfolgreiche Aufnahme in den jüngsten amnesty-international-Bericht dokumentiert, daß sich unser Land immer mehr von überkommenen Wertstellungen zu lösen und sich in kleinen, kaum merkbaren Schritten neuen (?) „Werten“ bedingungslos zu öffen vermag. Das verschafft uns Respekt bei unseren Geschäftspartnern im nahen und fernen Osten (Türkei + China) und eröffnet neue Märkte. Die Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners bei größtem gemeinsamem Profit ist außenpolitisch ja schon weiter entwickelt als im Inneren!

Während bei uns Symbolfiguren wie Gysi selbst dann noch offiziell geächtet werden, wenn „seine“ Partei mehr als 20 bis 30 Prozent aller Wählerstimmen hinter sich vereinigt, reicht man auf internationaler Ebene sowohl semi- neofaschistischen Regierungen wie Berlusconi als auch faschistoiden Altkommunisten wie Li Peng die Hand (im Gegensatz zu früheren Zeiten heute ganz offiziell, damit einem hinterher nicht wieder ein Schalk im Nacken sitzt). Mit würdigem Respekt vor diesen beachtlichen politischen Leistungen stimmen nun immer weitere schwarz-rot-grüne Bevölkerungskreise diesem neuen Kurs zu, alles erscheint plötzlich in einem neuen Licht: statt kräftiger, kontrastreicher Farben nun eher zarte, ineinanderfließende Pastelltöne, gesehen durch eine obligatorische braune Brille als ultimativen Rotfilter.

Beispielsweise wird auf ein Allzu-wörtlich-Nehmen des Grundgesetzes verzichtet, humanitäre „Out-of-area“-Einsätze in aller Welt sollen unser Selbstbewußtsein stärken und die Verantwortung als Großdeutschland wieder dokumentieren, ganz im Sinne des Großen Bruders von der anderen Seite des Atlantiks! Auch die Strafgesetze gelten zum Teil nur noch für die „Bösen“. Vorbei sind die Zeiten, als das völlige Versagen der deutschen Elite-Polizisten in Bad Kleinen weite Bevölkerungskreise in helle Empörung versetzte und nur der massive Einsatz von Nebelwerfern, Verschleierungskünstlern und teuer erkauften Gutachten ausländischer Polizeifreunde das Vertrauen in den Rechtsstaat wieder herstellen konnten. Heute werden sowohl verdeckte Ermittler (Weiden), kurdische Plakatkleber (Hannover), flüchtende Rumänen (Potsdam) und Kosovo-Albaner (Rosenheim), Rollstuhlfahrer (Köln) als auch kritische Journalisten (Hamburg) durch Polizeihand mißhandelt oder gar getötet, und selbst Filmaufnahmen von solchen Übergriffen („Tagesthemen“) oder lästige Zeugenaussagen können unsere Loyalität gegenüber der nicht mehr so ganz dreigeteilten Staatsgewalt (die „Guten“) erschüttern. Toleranz erzeugt Gegentoleranz, und so dürfen endlich Rechtsradikale ohne polizeiliche Störungen wieder ungestört ihren menschenverachtenden und verfassungsfeindlichen Hobbys nachgehen (Rostock, Magdeburg und Rüdersdorf). Auch die bayerischen „Amigos“ werden nicht länger an den Pranger gestellt, nur weil sie das gleiche wollen wie wir alle: viel verdienen (und daher doch die eigentlichen Volksvertreter sind).

Also alles in Ordnung und weiter nach der Devise der drei berühmten Affen, vielleicht mit Scheuklappen und Gehörschutz, damit die Hände zum Kassieren frei sind?! [...] Wir verkaufen Autos, ICE, Waffen, alles, was sie haben wollen. Alle profitieren! Alle? Was ist mit der chinesischen Bevölkerung? Was ist mit dem Ozonloch, dem Waldsterben, der Wasservergiftung, wenn alle Chinesen oder gar alle Menschen den Lebensstandard erreichen, den wir für uns in Anspruch nehmen? Was ist mit der ständig steigenden Zahl der Krisenherde in der Welt, wo sich Menschen mit unseren Produkten gegenseitig umbringen, bevor dann unsere Soldaten „humanitäre Hilfe“ leisten und unsere Politiker auch die letzten verbliebenen Schlupflöcher im (Kirchen- )Asylrecht stopfen müssen? Ich jedenfalls fürchte mich, den von unserer Gesellschaft mehrheitlich eingeschlagenen Weg weiter zu gehen.

Um so mehr freue ich mich über die friedlichen Demonstrationen für die Einhaltung der Menschenrechte sowie die immer noch kritische Berichterstattung über deren Verletzung und Mißachtung, hier und in anderen Ländern der Welt! [...] Bernd Höppner, Freiburg