Hochbrisante Puddingpäckchen

Eine Ausstellung in Singen erinnert anläßlich des 50. Jahrestages des „20. Juli 1944“ an den „kleinen“ Widerstand in der deutsch-schweizerischen Grenzregion: Schmuggel, Fluchthilfe aus Nazi-Deutschland – und Denunziation  ■ Von Werner Trapp

Am Samstag, dem 26. August 1933, noch vor dem ersten Morgengrauen, wurden die Bewohner des Schlachthausviertels in der Singener Südstadt vorzeitig aus dem Schlaf gerissen: einer Zollpatrouille waren gegen 3.15 Uhr nahe der Bahnunterführung zwei Männer aufgefallen, von denen jeder – verdächtig genug um diese Zeit – mit einer schweren Last bepackt war. Als die Beamten das Gepäck näher inspizieren wollten, wehrten sich die beiden energisch. Plötzlich, so war später im Polizeibericht zu lesen, habe einer der beiden aus dem Handgemenge heraus eine Waffe gezogen und mehrmals auf die Beamten geschossen. Diese erwiderten das Feuer zwar sofort, konnten jedoch nicht verhindern, daß der Schütze in der Dunkelheit entkam.

Bei der Durchsuchung der zurückgelassenen Gepäckstücke hingegen wurde man fündig: Versteckt zwischen einem halben Zentner Zucker fanden sich „hetzerische Druckschriften der Kommunistischen Partei, die im Ausland auf Rotationsmaschinen hergestellt worden waren“. Kurze Zeit später spürten SA-Leute auch den flüchtigen Schützen, den in Singen wohnenden Arbeiter Hermann Weber, in einem Stall bei der Wirtschaft „Zur Moskau“ auf – jenseits der Grenze, auf dem Territorium der schweizerischen Gemeinde Ramsen im Kanton Schaffhausen. Sie nahmen ihn dort gewaltsam fest und entführten ihn nach Deutschland. Der „nationalsozialistische Menschenraub auf eidgenössischem Hoheitsgebiet füllte die Schlagzeilen der schweizerischen Presse. Heftige Proteste zwangen die deutschen Behörden bald, Weber wieder freizulassen. Mit deutlichen Zeichen von Folter und Mißhandlungen am ganzen Körper wurde er am 31. August an das Bezirksamt Kreuzlingen ausgeliefert. Doch die Schweiz wollte den politisch verfolgten „Asylanten“ nicht haben: Am 26. September 1933 verwies ihn der Bundesrat in Bern auf Grund von Artikel 70 der Bundesverfassung als „lästigen Ausländer“ des Landes. Hermann Weber wurde über die französische Grenze abgeschoben und gilt seither als verschollen.

Eine deutsch-schweizerische Grenzlandgeschichte der Jahre nach 1933, wie sie sich so oder ähnlich zu Dutzenden in den Akten von Zoll und Bezirksämtern, in den Lageberichten der Gestapo, aber auch in der verstreuten und zum Teil wenig bekannten autobiographischen und historischen Literatur zum deutschen Widerstand findet. Namen und Geschichten wie die Hermann Webers indes waren in der Bundesrepublik für Geschichtsforschung und Museen lange Zeit kein Thema. Im Gegenteil: Im geteilten Deutschland der fünfziger und frühen sechziger Jahre gerann das „Erbe des Widerstands“ gegen den Nationalsozialismus auf beiden Seiten der Mauer zu einem Mythos und degenerierte zu einem handfesten Instrument ideologischer Auseinandersetzungen im Zeichen des „Kalten Krieges“.

Verdiente in der DDR zunächst nur der „Antifaschismus“ der sozialistischen Arbeiterbewegung, allen voran der der Kommunistischen Partei Deutschlands, das Prädikat „Widerstand“, so dachte man in der Bundesrepublik fast ausschließlich an die „Verschwörung der Eliten“ und den „Aufstand des Gewissens“, wenn von „Widerstand“ die Rede war – an die „Männer des 20. Juli 1944“ , bestenfalls noch an die „Weiße Rose“ der Geschwister Scholl oder die „Bekennende Kirche“ um den evangelischen Pastor Martin Niemöller. Kommunisten und auch Sozialisten hingegen zählten für konservative westdeutsche Historiker wie auch für einen großen Teil der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit nicht zum „deutschen“ Widerstand. Ihnen haftete vielfach auch nach 1945 das Odium des „Hoch- oder Landesverrats“ an, zurückgekehrten Emigranten schlug das Mißtrauen der Masse jener entgegen, die das „Dritte Reich“ als „Mitläufer“ hingenommen oder mitgetragen hatten.

So verdient ein Vorhaben Aufmerksamkeit, das angesichts des 50. Jahrestages des „20. Juli 1944“ und der rund um dieses Datum zu erwartenden Medien- und Gedenk-Öffentlichkeit andere Wege zu gehen versucht: „Grenzwege – Widerstand an der Schweizer Grenze 1933–1945“, eine Ausstellung des „Haus der Geschichte Baden-Württemberg“ in Singen. Dort geht es um Geschichte und Geschichten vom Widerstand, von politischem Schriftenschmuggel und Flucht über die Grenze, von wohl organisierter Opposition und vom mutigen Handeln Einzelner – um Menschen, die bisher meist namenlos geblieben sind, „vergessen“ und gerade dadurch ein zweites Mal zu Opfern gemacht wurden.

Dem liegt ein breit gefaßter Begriff von Widerstand zugrunde, der ausdrücklich auch Personen mit einschließt, „die nicht aus einer politischen Grundüberzeugung den Nationalsozialismus in Frage stellten, aber durch ihre Handlungen den Geltungsbereich der Gewaltherrschaft einschränkten“.

Weit entfernt von jenen Zentren politischer und militärischer Macht, auf deren Beseitigung der „konservative Widerstand“ des 20. Juli zielte, lag (und liegt) Singen im Herzen des deutsch-schweizerischen Grenzgebiets, das nicht nur wegen seiner topographischen Gegebenheiten, sondern auch aufgrund seiner realen Verflechtungen über die Grenzen hinweg vor allem zwei Formen des Widerstands begünstigt hat: den Schmuggel illegaler Druckschriften nach Deutschland und die organisierte Hilfe zur Flucht für politisch oder „rassisch“ Verfolgte in die Schweiz. Das deutsch-schweizerische Grenzgebiet war für solche Aktivitäten Drehscheibe, Anlaufstelle und notwendige Durchgangsstation zugleich.

Den Besucher erwartet zunächst ein „authentischer Ort“ – zwei Gepäck- und zwei Personenwagen der Deutschen Reichsbahn aus den dreißiger Jahren, postiert auf einem stillgelegten Gleis des Singener Bahnhofes. Der erste Gepäckwagen ist dem aktiven organisierten Widerstand der regionalen Arbeiterbewegung gewidmet, der es gerade in den Anfangsjahren des „Dritten Reiches“ noch vermochte, organisatorische Zusammenhänge über die Grenze hinweg aufrechtzuerhalten oder auch schon illegale Untergrundarbeit aus der Schweiz zu leisten. Die dargestellten Einzelaktionen werden mit der Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus kontrastiert: Inszenierung der „Volksgemeinschaft“ als „schöner Schein“ auf der einen und Terror gegen jeden, der sich in diese „Gemeinschaft“ nicht freiwillig einfügen wollte, auf der anderen Seite.

Ein zweiter Eisenbahnwaggon thematisiert den illegalen Schmuggel von Zeitungen und Zeitschriften, Broschüren, Tarnschriften und anderen Druckmaterialien aus der Schweiz ins nationalsozialistische Deutschland. 1935 sind nach Angaben der Gestapo 1,67 Millionen Flugblätter und Tarnschriften von SPD und KPD in Deutschland aufgetaucht, im Jahre 1937 immerhin noch 927.000. Bereits im Jahre 1933 wurden 2.045 Personen wegen Herstellung, Verbreitung oder Nichtanzeige von illegalen Druckschriften von deutschen Gerichten verurteilt. Besonders an den rund 600 bisher bekannten Tarnschriften – politische Druckmaterialien, die, unter einem falschen Umschlagstitel, meist unverfänglichen ersten Seiten und einem erfundenen Impressum, verbotene antifaschistische Inhalte verbargen – wird deutlich, wieviel Phantasie notwendig war, um das dicht geknüpfte Netz aus Kontrolle und Terror zu unterlaufen. So verbarg sich unter dem harmlosen Titel „Die Kunst des Selbstrasierens. Neue Wege männlicher Kosmetik“ die vom Exilvorstand der Sozialdemokratischen Partei in Prag herausgegebene Schrift „Kampf und Ziel des revolutionären Sozialismus. Die Politik der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“. Und ein speziell präpariertes Päckchen „Dr. Oetkers Pudding Pulver“ enthielt das in Basel hergestellte Heft 5 der Kommunistischen Internationale von 1936. Organisationen wie die von dem emigrierten Redakteur Willi Bohn aufgezogene „Transportkolonne Otto“ brachten diese Schriften über die Grenze, versteckt zum Beispiel in den Rucksäcken einer „harmlosen“ Gruppe schweizerischer Wanderer. In einer abgelegenen Gegend wie der Halbinsel Höri übergaben diese den „Pudding“ an deutsche Genossen, die den Inhalt dann im gesamten Reichsgebiet verbreiteten.

Die alten Gepäck- und Personenwagen der Reichsbahn sind so zugleich authentische wie symbolische Orte. Authentisch, weil zumindest in den Anfangsjahren der NS-Herrschaft die Fahrt mit dem Zug von Singen über Schaffhausen und Waldshut nach Basel eine wichtige Möglichkeit bot, Flüchtlinge unentdeckt über die Grenze zu bringen – ein Thema, das in Waggon 3 und 4 des Ausstellungszuges gezeigt wird. Ohne die organisierte Hilfe durch Ortskundige diesseits und jenseits der Grenze jedoch, das wird an Einzelbeispielen eindrücklich vorgeführt, war die Flucht vor Terror und Verfolgung kaum möglich.

Die Vielfalt individueller wie organisierter Flüchtlingshilfe auf schweizerischem Boden erst gab der Hoffnung auf ein freies und sicheres Leben jenseits der Grenze Grund und Halt – eine Perspektive, die notwendigerweise ergänzt wird durch den kritischen Blick auf eine immer restriktivere Flüchtlingspolitik der Schweiz, die einer noch unbekannten Zahl von Flüchtlingen das Leben kostete.

Die verborgene, geheime Welt von Flucht und Fluchthilfe erscheint zugleich im Kontext jener übermächtigen „offiziellen“ Realität und Politik des „Dritten Reiches“, welche gerade dem deutschen Grenzland die Rolle einer präsentablen „Visitenkarte“ wie eines militärisch hochgerüsteten „Bollwerks“ des „neuen Deutschland“ zugedacht hatte. Zwischen diesen beiden Gesichtern des Nationalsozialismus, zwischen dem schönen Schein der „zivilen“ Visitenkarte und staatlich organisiertem Terror aber stand von Anfang an eine für das Funktionieren des NS-Systems – wie wir heute wissen – tragende, ja unentbehrliche Figur: der Denunziant, häufiger noch die Denunziantin. Nahezu 80 Prozent aller von der Gestapo Verfolgten, das haben neuere regionalgeschichtliche Forschungen ergeben, verdanken ihr „Schicksal“ einer Denunziation.

So auch zwei jüdische Frauen, die im Mai 1944 von Singen aus über die Grenze wollten. Alleine aber konnten die Frauen bei Dunkelheit den Weg über die Grenze nicht finden. Sie gaben auf und fuhren mit dem Frühzug nach Singen zurück. Dort fielen einem Fahrgast die verdreckten Schuhe und das ungewöhnlich große Gepäck der beiden auf. Ohne von irgend jemandem dazu gezwungen worden zu sein, meldete er seine Beobachtung bei der Gestapo.

Noch am Bahnhof in Singen wurden auch die beiden Jüdinnen verhaftet. Ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt. Doch ist es – wir schreiben das Jahr 1944! – nur allzu wahrscheinlich, daß sie kurz darauf noch einmal in einen Zug gesetzt wurden – Richtung Osten, zur letzten Reise ihres Lebens.

Die Ausstellung „Grenzwege – Widerstand an der Schweizer Grenze 1933–1945“ ist noch bis zum 25. September im Kulturamt der Stadt Singen und in historischen Eisenbahnwaggons auf dem Singener Bahnhof zu sehen.