Ein gut geplanter Vernichtungsfeldzug

Warum haben sich so viele Menschen in Ruanda bereit gefunden, ihre Nachbarn zu massakrieren? Die Antwort ist in Ruandas politischem System zu finden, das ethnisch definierte Erfahrungsmuster und Gewaltanwendung privilegiert hat  ■ Von Peter Pieck

Ruanda liegt den meisten Deutschen fern – und dies in jeder Hinsicht: Sicher ist es furchtbar, was dort geschieht. Aber wer könnte schon sagen, wie von außerhalb des Landes den Mördern Einhalt geboten werden könnte?

Eine Ursache unserer Ohnmacht liegt darin begründet, daß es uns nur schwer möglich ist, die Ursachen und sozialen Triebkräfte dieses Konflikts zu identifizieren. Die internationale Presse konnte bislang nur sehr selektiv berichten, da sie nur begrenzten Zugang zu den Orten des Geschehens hat. Der Mangel an Verständnis geht aber weiter: Es gibt disparate Ansätze der Erklärung, aber keine auch nur halbwegs konsistente Theorie.

Allerdings: Ob es überhaupt eine mit der Vernunft nachvollziehbare Erklärung dafür geben kann, daß jemand, der jahrzehntelang friedlich (?) mit seinem Nachbarn zusammengelebt hat, diesen, dessen Frau und Kinder plötzlich auf bestialische Weise umbringt, bleibt fraglich.

Macht und Mord

Die Bezeichnung der Ereignisse in Ruanda als Machtkampf ist die einfachste Umschreibung des Konflikts. Dieser Machtkampf wird einerseits als „klassischer“ Krieg, also als Auseinandersetzung zwischen zwei Armeen, ausgetragen und andererseits in Form der Massakrierung eines Teils der Bevölkerung durch einen anderen. Die Opfer sind vor allem oppositionelle Politiker, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, und alle Tutsi bis hin zu Kleinkindern und Säuglingen. Täter sind in erster Linie Angehörige beziehungsweise Sympathisanten der Milizen der extremistischen Hutu- Parteien MRND und CDR. Es ist dieser Massenmord, der in seiner Grausamkeit und in seinen Ausmaßen unverständlich bleibt: Gewiß, er wurde höchstwahrscheinlich von Teilen des engsten Kreises („Akazu“) um den früheren Präsidenten Habyarimana im Präsidentenamt und in der Armee systematisch geplant und vorbereitet. Sein Ziel war, die Opposition (RPF und oppositionelle Parteien), die durch eine bevorstehende Übereinkunft mit dem ehemaligen Präsidenten die bisherige Pfründewirtschaft aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte, ihres sozialen Fundaments zu berauben: Durch die Ermordung der wichtigsten oppositionellen Politiker beziehungsweise einfacher Parteimitglieder, vor allem aber durch die Massakrierung der Tutsibevölkerung (die in Ruanda insgesamt etwa 800.000 Personen ausmachte) verlöre die Opposition physisch ihre Basis. Gleichzeitig würden mit dem Hinweis auf ethnisch definierte Motive der Auseinandersetzungen die diesen zugrunde liegenden sozialen und politischen Ursachen kaschiert.

Mag dieses Kalkül auch mit Mühe nachvollziehbar sein, so bleibt doch die Frage: Wie konnte es geschehen, daß dieser Massenmord auch tatsächlich ins Werk gesetzt wurde? Die 1.600 ausgebildeten Milizionäre konnten nur einen – wenn auch sehr „wirkungsvollen“ – Stoßtrupp bilden, und die Armee und die Gendarmerie waren nur zum Teil für ein aktives Mittun bei einem solchen Unterfangen zu gewinnen. Tatsächlich gibt es Tausende von kleinen Helfern, die „die Arbeit machen“ (wie sie selbst sagen). Zwar werden nicht wenige Personen von der Miliz unter Androhung des eigenen Todes gezwungen, selbst zu morden – in nicht seltenen Fällen sogar die eigenen Familienangehörigen. Vermutlich sollte so eine möglichst große Zahl von Tätern geschaffen werden, um später eine Bestrafung der Verantwortlichen zu verhindern. Aber es gibt viele, sehr viele, die nicht gezwungen werden mußten. Gewiß, sie wurden aufgewiegelt durch gezielte Falschmeldungen über Massaker der RPF und Hetze gegen die Tutsibevölkerung. Aber welche Erfahrungen muß einer gemacht haben, der auf die Sendungen irgendeines Radiosenders hin seinen Nachbarn umbringt? Und zwar nicht in spontaner Wut, die ebenso schnell verrauchen würde, wie sie hochgekocht ist: Nein, nachdem die Familie getötet worden ist, fällt einem ein, daß noch eine Tochter fehlt, und alle machen sich auf, sie zu suchen. Und nach ein paar Tagen, als die Suche nach noch lebenden Tutsi immer beschwerlicher wird, kommt man auf die Idee, nun auch die Hutu, deren Ehepartner Tutsi sind, heimzusuchen ...

Es ist zwar gut gemeint, wenn gegen das ewige Gerede von den „Stammesfehden“ moderner anmutende Erklärungsansätze vorgebracht werden, etwa die These, alles sei letztlich eine riesige grausame Umverteilung von Reichtum. Zwar gehören in der Tat die meisten Täter zu denjenigen, die im Elend leben. Entscheidend ist aber, daß die Täter nicht unter den Reichen ihre Opfer suchen (oder nur in Ausnahmefällen), nicht unter den Honoratioren des Regimes, die ja einiges zu bieten hätten, sondern unter ihren Nachbarn, deren zumeist ärmliche Verhältnisse sie ganz genau kennen. Es geht auch nicht darum, das Familienoberhaupt zu töten, um sein Haus zu plündern, sondern seine ganze Familie bis hin zu Kleinkindern und Säuglingen auszulöschen – weil sie Tutsi sind. Nicht die Hutu-Kaziken aus dem Norden, die in den vergangenen zwanzig Jahren auf Kosten der übrigen Landesteile kräftig abgesahnt haben, werden attackiert, sondern diejenigen, die den Mut besessen haben, für eine andere als die ehemalige Einheitspartei MRND und deren Verbündete einzutreten.

Was kann damit gemeint sein, wenn Täter die „Knechtschaft durch die Tutsi“ beklagen, die es abzuschaffen beziehungsweise zu verhindern gelte? Die Zahl der Tutsi im Staatsapparat und den (halb)staatlichen Unternehmen ist durch die gezielte Personalpolitik des alten Regimes sehr klein, in der Armee spielen sie so gut wie keine Rolle. Vor dem Krieg gab es unter den 140 Bürgermeistern, die nicht gewählt, sondern vom Präsidenten eingesetzt wurden, keinen Tutsi. Nur in den Apparaten der christlichen Kirchen sind die Tutsi relativ stark vertreten. Über ihren Anteil am Handel gibt es keine statistischen Angaben. Er ist sicher stärker als ihr Bevölkerungsanteil, aber die oft vorgebrachte Behauptung, der gesamte Handel werde durch die Tutsi dominiert, ist durch nichts belegt. Die alte Tutsi-Monarchie mit ihren oft als „feudal“ beschriebenen Hierarchien und Hörigkeitsverhältnissen existiert seit 1959 nicht mehr. Der allergrößte Teil derjenigen, die sich an der mörderischen Menschenjagd beteiligen, kann sie also nur noch vom Hörensagen kennen.

Die Rolle der Ethnien

Eine Erklärung dieses scheinbaren Widerspruchs mag darin liegen, daß der ethnische Gegensatz sich als festes Erfahrungsmuster von einem historischen Produkt zu einer Art archetypischen Urgesteins im sozialen Unterbewußten verdinglicht hat, das, im rechten Moment mit den richtigen Losungen losgetreten, wie eine Lawine auf die ruandische Gesellschaft niedergehen kann. Dieses Erfahrungsmuster blieb zunächst in der Aufbruchstimmung des unabhängigen Ruanda nach der Vertreibung großer Teile der Tutsi-Minderheit 1959 und dem Ende der belgischen Kolonialherrschaft 1962 latent, vor allem in der 1. Republik bis zum Putsch Habyarimanas 1973. Später schien das Quotensystem, nach dem jeder Ethnie nur so viel an öffentlichen Ressourcen (Stipendien, Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst etc.) zustand, wie ihrem Bevölkerungsanteil entsprach, einen gewissen Ausgleich zu gewährleisten. Offiziell war also der ethnische Gegensatz überwunden. Es wurde von allen Ruandern zur Zeit der Einparteienherrschaft (also bis 1991) im offiziellen Diskurs stets betont, daß sie sich nicht mehr als Hutu oder Tutsi verstehen, sondern allein als „ruandische Staatsbürger“.

War die Opposition gegen die Tutsi in den fünfziger Jahren noch die ethnisch definierte – und deformierte – ideologische Gestalt, die der Befreiungskampf gegen Monarchie und Kolonialismus angenommen hatte, so diente der ethnische Gegensatz zwanzig Jahre später beiden Gruppen dazu, vermeintlich oder wirklich erlittene Diskriminierungen zu erklären, zu interpretieren und in Handlungsmuster für die Zukunft zu transformieren. Denn nicht nur die verbliebene Tutsi-Minderheit wurde benachteiligt, auch die größten Teile der Hutu-Mehrheit sahen sich einer zunehmenden sozialen Diskriminierung ausgesetzt: höhere Bildung, Stipendien, Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst (der in Ruanda die weitaus größte Zahl der Lohn- und Gehaltsempfänger beschäftigt) und erst recht Stellungen, die Macht und Reichtum versprachen, waren nicht nur den meisten Tutsi versperrt, sondern auch dem größten Teil der Hutu. Man mußte aus der „Präsidentengegend“ kommen oder entsprechendes matabish (Schmiergeld) bezahlen. Zunehmende Massenverarmung durch das Sinken der durchschnittlichen landwirtschaftlichen Betriebsfläche (durch Erbteilung) bei rasantem Bevölkerungswachstum, eine allgemeine Teuerung durch mehrfache Abwertungen des ruandischen Franc im Zuge des Strukturanpassungsprogramms, der kurz bevorstehende Kollaps der Staatsfinanzen durch die enormen Kriegskosten nach dem Beginn des Bürgerkrieges 1990 und eine bedrohliche Ausmaße annehmende Staatsverschuldung – all dies tat ein übriges, um die Frustrationen der Bevölkerung zu einem gefährlichen Aggressionspotential anwachsen zu lassen.

In einer Situation, in der die erlittenen Frustrationen nicht an ihre Verursacher zurückgegeben werden konnten, wurden die sozialen Blessuren auf diejenigen projiziert, die seit jeher als die Ursache allen Übels galten: auf die ethnische Minderheit der Tutsi, denen ihrerseits Frustrationen über den Machtverlust von 1959 zu unterstellen nahelag. Alle diese Interaktionen liefen zu einem großen Teil unterschwellig ab, gleichsam als Tritt gegen das Schienbein unter dem Tisch, wo es keiner sieht. Das Ergebnis dieser Renaissance wechselseitiger Ressentiments: Entgegen allen öffentlichen Bekenntnissen der Betroffenen und der wachsenden Zahl von Mischehen – wobei nach dem Gesetz die Ethnie der Kinder immer die des Vaters ist – definierten sich die Ruander immer stärker über ihre Ethnie: Die Masse der Hutu als vermeintlich von den „verschlagenen“ Tutsi um ihren Teil an den modernen Errungenschaften Betrogene; die Tutsi als Opfer einer permanenten Diskriminierung.

Zugleich war aus der sich paternalistisch gebenden Einparteienherrschaft ein pseudopluralistischer Staatsapparat geworden, in dem die aufgestauten Aggressionen offen entladen werden konnten. Das 1991 eingeführte Mehrparteiensystem stellte die institutionellen Möglichkeiten für das politisierte Dauergezänk her, dessen Form der nunmehr offen ausgetragene Kampf um Reichtum und Macht annahm. Niemand war in Ruanda an demokratische Formen des politischen Diskurses gewöhnt. Niemand hatte bisher an freien Wahlen teilgenommen (sieht man von denen Ende der fünfziger Jahre ab), geschweige denn sie organisiert. Niemand, und am allerwenigsten die Bauern, hatte gelernt, seine Interessen organisiert gegen die Obrigkeit zu vertreten. Eine offene und öffentliche Diskussion über politische Angelegenheiten, die über die bloße Akklamation des Staatsoberhauptes hinausginge, kannte man nicht. Das wesentliche historische Erfahrungsmuster des wirksamen Protests war bislang allein die entfesselte Gewaltanwendung gegen die Angehörigen der jeweils anderen Ethnie.

Die neuen Parteien definierten sich zwar zunächst nach politischen Leitbildern, die europäischen Modellen entliehen waren: „sozialdemokratisch“, „liberal“ etc. Ihre Verantwortlichen betrieben aber keine politische Grundbildung und setzten sich auch nicht in erster Linie für die Interessen ihrer zukünftigen Wähler ein, sondern lediglich für ihre eigenen. Die Formen der Auseinandersetzung degenerierten zu Beleidigungen des politischen Gegners, übler Nachrede, rassistischer Hetze, schließlich zu Körperverletzung und politisch motiviertem Mord.

Etwa anderthalb Jahre nach Einführung des Mehrparteiensystems 1991 begann ein Prozeß der Neuordnung der Parteienlandschaft, der zur De-facto-Spaltung etlicher Parteien führte. Die Scheidelinie war – allen plakativen Etiketten zum Trotz – die der ethnischen Zugehörigkeit: Es gab nun jeweils einen Hutu- und einen Tutsiflügel, das heißt einen, der für eine Beteiligung an der Herrschaft, zumindest aber ein angemessenes Entgelt bereit war, sich mit den Machthabern gegen die RPF zu arrangieren, und einen, der sich eher der RPF annäherte.

Das ethnisch definierte Erfahrungs- und Bewertungsraster großer Teile der ruandischen Bevölkerung wurde also nicht außer Kraft gesetzt. Die neuen Parteien bekämpften die existierenden Erkenntnisschranken nicht, sondern zementierten sie im Gegenteil noch, um sie für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Nun konnte wieder ungeniert „Hutu-Power“ propagiert werden. Das Attentat auf den Präsidenten Habyarimana am 6. April 1994 und die daraufhin systematisch geschürte Angst vor einem Vernichtungsfeldzug der RPF gegen alle Hutu war dann nur noch der Funke, der die seit langem gelegte Lunte zum Brennen brachte.

Die Geberländer

Die Entwicklung eines Landes wie Ruanda, dessen öffentliche Ausgaben zum größten Teil von außen finanziert werden, kann nicht ohne den Einfluß, den die „Geberländer“ und -institutionen ausüben, verstanden werden. Über zwanzig Jahre lang kollaborierten die Geberländer, auch Deutschland, eng mit dem Regime, ohne daß jemals ernsthaft und nachdrücklich eine demokratische Entwicklung angemahnt worden wäre. Schließlich wollte man nichts von außen aufzwingen, was nicht der „spezifischen afrikanischen Situation“ angepaßt wäre. Die Hilfsleistungen, deren Volumen und Bedeutung für die ruandische Volkswirtschaft ständig wuchsen, mögen wohl zuweilen als diskretes Druckmittel eingesetzt worden sein, nie aber zur Förderung eines inneren Öffnungsprozesses.

Es sollte außer Frage stehen, daß in der zukünftigen Entwicklungszusammenarbeit zwischen Deutschland und Ruanda die Unterstützung von Demokratisierungsprozessen eine deutlich größere Rolle spielen muß. Es kann hier nicht nur um die Unterstützung beim Aufbau demokratischer Parteien, bei der Durchführung von Wahlen oder der politischen Bildung der intellektuellen Elite gehen. Vielmehr käme es darauf an, auf kommunaler Ebene die bäuerliche Bevölkerung zu größerer Partizipation an der Entscheidung der „öffentlichen Angelegenheiten“ zu befähigen. Eine solche Partizipation wird nur dann erreicht werden können, wenn die Bauern durch ihr Engagement ihre Lebenssituation fühlbar verbessern können. Hier bedingen sich Demokratisierung und Armutsbekämpfung wechselseitig.

Der Autor ist Diplomsoziologe und arbeitete jahrelang u.a. als Städteplaner in Ruanda