Quantensprung beim Nuklearhandel

■ Das waffenfähige Plutonium, das im Mai in Baden-Württemberg entdeckt wurde, stammt aus einer russischen Atomwaffenschmiede / FBI-Direktor warnt vor Nuklearterrorismus

Berlin/Moskau (taz) – Sechs Gramm Plutonium machen noch keine Bombe. Aber das mit 54 Gramm Quecksilber-Antimon vermischte Nuklearmaterial, das die Polizei Anfang Mai in Tengen am Bodensee zufällig fand, ist dennoch ein Quantensprung, was den illegalen Handel mit Nuklearmaterial angeht. Denn das Plutonium ist zu 99,7 Prozent rein und gilt damit als Ia-Waffenstoff. Schon eine 93prozentige Anreicherung reicht aus, um Bomben daraus zu bauen, ab 96 Prozent sprechen die Experten von superreinem Stoff. Selbst für Experten ist zur Zeit aber noch rätselhaft, warum das Plutonium mit Quecksilber-Antimon vermischt war.

Laut Spiegel stammt der brisante Fund aus einer russischen Atomwaffenfabrik. Drei Nuklearkomplexe sind als Ursprungsort denkbar: Tscheljabinsk-65 in Oscharsk, das bereits wegen eines jahrzehntelang geheimgehaltenen Unfalls im Jahr 1957, bei dem 500.000 Menschen radioaktiv verseucht wurden, traurige Berühmtheit erlangte. Aber auch Tomsk-7 in Sibirien oder das Bergbau- und Chemiekombinat in Schelenogorsk, bekannter unter dem Nmen Krasnojarsk-26, sind als Herkunftsstätten möglich.

Der Norddeutsche Rundfunk meldete am Freitag abend, das wissenschaftliche Gutachten des Europäischen Instituts für Transurane in Karlsruhe lege nahe, daß das Supergift aus Tscheljabinsk stamme: Schriftzeichen auf dem in Tengen gefundenen Behälter wiesen darauf hin. Das Material sei reiner als in westlichen Produktionsstätten hergestelltes. Wie vor etwa einem Jahr bekannt wurde, zählen auch die Nasa und das US- Energieministerium zu den Kunden in Tscheljabinsk: Im Frühjahr 1993 hatte Rußland einen ersten Vertrag über die Lieferung von fünf Kilo Plutonium mit dem US- Energieministerium abgeschlossen.

Wie das Plutonium jetzt von dem Ort hinter dem Ural nach Deutschland gelangte, ist noch völlig unklar. Der Direktor des US- Geheimdienstes FBI, Louis Freeh, hatte erst Anfang dieses Monats die Befürchtung geäußert, daß in der Periode des postkommunistischen Chaos nukleares Material aus Rußland in die Hände von Kriminellen geraten und an Terroristen weiterverkauft werden könnte. Freeh sagte dies auf einer Pressekonferenz, bevor er am 5. Juli in Moskau ein doppelseitiges Abkommen mit dem russischen Innenminister Jerin unterzeichnete. Der Vertrag sieht russisch- amerikanische Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens und mafiaähnlicher Formationen vor.

Jerin und ein Sprecher des russischen Präsidenten versuchten damals, Freehs Befürchtungen in Hinsicht auf eine russische Atom- Mafia als „unbegründet“ herunterzuspielen. Sie erklärten, es habe bisher keinen einzigen Fall von Diebstahl in russischen Atomkraftwerken gegeben. Gleichzeitig konzedierte Jerin allerdings, daß in Rußland zur Zeit 50 Fälle von kriminellen „Händeln“ mit nuklearem Material aus den Bereichen der Metallurgie und der Medizin untersucht würden. Freeh konterte vor der Presse leicht ironisch: Man könne mit der präventiven Bekämpfung des Atomschmuggels ja ruhig schon einmal beginnen, bevor es zu manifesten Terrorakten auf dieser Grundlage gekommen sei. aje/bk