Wer lebt überhaupt noch in Ruanda?

■ Bis zu dreieinhalb Millionen Ruander sind in die Nachbarländer gezogen / UNHCR: "Wir fühlen uns absolut hilflos" / Frankreich erkennt RPF-Sieg an / Neue ruandische Regierung in Kigali vereidigt

Goma/Berlin (AP/AFP/taz) – „Das ganze Land kommt über die Grenze“, sagt Panos Moumtsis, Sprecher des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR), in der zairischen Grenzstadt Goma. „Wir fühlen uns absolut hilflos. Es ist völlig unmöglich, damit fertig zu werden.“

In den letzten Tagen sind mindestens zwei Millionen Flüchtlinge aus Ruanda über die Grenze gekommen, und stündlich werden es mehr. Niemand weiß genau, wie viele es sind, aber letzte Schätzungen sprachen gestern von fast 3,5 Millionen. Das ist fast die Hälfte der 7,5 Millionen Einwohner, die das kleine ostafrikanische Land vor dem Bürgerkrieg hatte. „Sollen wir mit einem ganzen Volk fertig werden, das über die Grenze kommt?“ fragt der UNO-Beamte und gibt selbst die Antwort: „Ich glaube es nicht.“

Das UNHCR hat begonnen, außerhalb Gomas Auffanglager einzurichten. Nach Angaben von Sylvana Foa, Sprecherin des UNHCR in Genf, sind die Straßen in Goma mit Leichen übersät, um die sich niemand kümmere. Viele Flüchtlinge seien totgetrampelt worden. Bei der Verteilung der wenigen Lebensmittel herrschten Chaos und das „Recht des Stärkeren“. Das Hospital von Goma sei hoffnungslos überfüllt, Nothospitäler stünden noch nicht bereit. Nach Berichten aus Goma wächst auch unter der einheimischen zairischen Bevölkerung der Unmut immer stärker an.

Eine „Berliner Luftbrücke“ für Goma?

Weiterhin sind die Hilfsorganisationen in Goma hoffnungslos überfordert. Nach UNHCR-Schätzungen werden in der Stadt täglich 600 Tonnen Lebensmittel benötigt. Bis Montag seien aber bisher nur 100 Tonnen verteilt worden. Die geplante Luftbrücke werde weiterhin durch die Überlastung des kleinen Flughafens behindert. Das UNHCR hat daher verlangt, den de facto von französischen Militärs kontrollierten Flughafen unter UN-Kontrolle zu stellen. Die britische Hilfsorganisation „Oxfam“ forderte gestern eine „konzertierte Anstrengung der Großmächte“, um eine „Berliner Luftbrücke“ nach Goma einzurichten. „Es geht um das Leben von einer Million Menschen“, sagte Marcus Thompson von Oxfam, der dazu eine schnelle Stationierung von UNO- Truppen in Ruanda will, um die Rückkehr der Flüchtlinge zu ermöglichen.

In Goma sind mittlerweile nach Schätzungen 1,2 Millionen Menschen aus dem vom Krieg verwüsteten Nachbarland eingetroffen. Vertreter von Hilfsorganisationen im Süden Ruandas berichteten von dort, 1,9 Millionen Menschen seien im Gebiet der Grenzstadt Cyangugu unterwegs und flüchteten in Richtung der zairischen Stadt Bukawu. Noch weiter südlich, bei Kamanyola und Uwira am Tanganjika-See, hätten 400.000 Flüchtende die Grenze überschritten.

Die Abfolge der Fluchtbewegungen ist auf eine merkwürdige Weise eindeutig. Als letzte Woche die Reste der einstigen ruandischen Regierung im nordwestruandischen Gisenyi residierten, flohen von dort Hunderttausende von Menschen; seitdem diese Regierung sich am Sonntag jedoch nach Cyangugu in der von den französischen Truppen ausgerufenen „Schutzzone“ im Südwesten Ruandas absetzte, kommt die größte Fluchtbewegung von dort. Beide Wanderungen wurden nach Berichten der Flüchtenden, die inzwischen auch das UNHCR bestätigt, von Aufrufen im Radiosender der einstigen Regierung angeheizt. „Ihr seid auf euch allein gestellt, wir können euch nicht mehr helfen“, heiße es da, berichtete UNHCR-Sprecherin Sylvana Foa gestern in Genf. Daraufhin hätten sich Hunderttausende in Bewegung gesetzt, ohne daß ein Schuß gefallen sei. Die Hilfsorganisation Médecins Sans Frontières sprach von einer „Massenhysterie“.

Die französische Schutzzone entvölkert sich

Die Massenflucht aus Cyangugu und Bukavu hat zur Folge, daß sich die französische „Schutzzone“ entvölkert. Unter den Flüchtlingen aus Cyangugu befinden sich nach französischen Angaben auch die einstigen Regierungsminister, was aber von zairischer Seite nicht bestätigt werden konnte. Die im Bürgerkrieg siegreiche Ruandische Patriotische Front (RPF), die außerhalb der „Schutzzone“ ganz Ruanda kontrolliert, sagte in Bonn, die „sogenannten Schutzzonen“ hätten „ihren Zweck verfehlt“ und seien „umgehend aufzulösen“. Frankreichs Außenminister Alain Juppé erkannte derweil den Sieg der RPF an und sagte, die französische „Operation Türkis“ in Ruanda werde „vor Mitte August“ beendet.

In der ruandischen Hauptstadt Kigali wurden gestern Pasteur Bizimungu und Faustin Twagiramungu als Präsident beziehungsweise Ministerpräsident Ruandas vereidigt. Bizimungu und Twagiramungu waren am Sonntag vom Zentralkomitee der RPF nominiert worden und sollen eine „Regierung der Nationalen Einheit“ führen, in der RPF-Kommandeur Paul Kagame als Vizepräsident und Verteidigungsminister amtiert. Anwesend waren mehrere ausländische Gäste, darunter Ugandas Ministerpräsident George Cosmas Adyebo. D.J.

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