Kahlschlag in Mitte
: Befreiung durch Enthauptung?

■ taz-Serie (Teil 6): „Die Baufeldfreimachung wird 1995/96 stattfinden“ – das ehemalige Staatsratsgebäude der DDR soll bis dahin abgerissen werden

Man hat sich fast schon an den aus Glas und Beton gegossenen zugigen Ort in der Stadtmitte gewöhnt. Egal von welcher Seite man sich dem Marx-Engels-Platz nähert, stets fegt der Wind über den offenen Raum zwischen dem Palast der Republik, dem einstigen DDR-Außenamt und dem Staatsratsgebäude. Doch statt dem Areal durch den Weiterbau der bestehenden Architekturen eine Fassung zu geben, droht der Ort mittelfristig zur Wüstenei zu werden: In die Relikte des sozialistischen Städtebaus soll die Abrißbirne fliegen, um die unliebsamen baugeschichtlichen Zeugnisse deutscher Vergangenheit plattzumachen.

Dem absurden Akt der Befreiung durch Enthauptung soll der denkmalgeschützte Staatsrat als erstes Bauwerk geopfert werden, kollidiert er doch mit den Plänen für den Neubau des Auswärtigen Amtes. „Die Baufeldfreimachung wird 1995/96 stattfinden“, sagt Jörg Ihlau, Pressechef im Bonner Bauministerium, und legitimiert den Abriß mit dem Ergebnis des „Wettbewerbs Spreeinsel“. Frühere Überlegungen, sich von der südlichen Scharrenstraße in Richtung Staatsrat langsam „vorzubaggern“, wurden verworfen.

Als Begründung für den geplanten Abriß, so der Stadtsoziologe Harald Bodenschatz, „muß ein städtebauliches Argument herhalten: das Prinzip der Rekonstruktion des Stadtgrundrisses“, obwohl dieser dort nicht mehr existiere. Bodenschatz ist empört: „Ein vorhandenes bauliches Denkmal soll zugunsten eines nicht mehr vorhandenen historischen Straßenabschnitts geopfert werden.“ Die Wiederherstellung des preußischen Gravitationszentrums komme der Bilderstürmerei gleich.

Sicher. Das Gebäude des Staatsrats ist kaum mehr als ein Ort für abgeschottete Regierungsgespräche und heroische Lamettadekorationen gewesen. Ganz im Gegensatz zum benachbarten Volkspalast blieb es stets, was es war: nämlich volksfern. Dennoch ist der zwischen 1962 und 1963 errichtete Bau mit seinem rekonstruierten Schloßportal IV – von dem aus Karl Liebknecht 1918 die Räterepublik proklamierte – die erste Staatsarchitektur in der DDR, die historische Bauteile in einem Neubau verbindet. Programmatisch steht darum in der Portalinschrift „1713–1963“.

Die Abrißpläne werden zusätzlich mit Nutzungsproblemen des Hauses angereichert. Die repräsentativen Räume eigneten sich schlecht als Ministerium, wird gesagt. Dem ist nur zuzustimmen: Darum verweist die „Initiative gegen den Abriß des Staatsratsgebäudes“ gerne auf die derzeitige Nutzung als Ausstellungshalle. Rolf Lautenschläger

Die Serie wird am nächsten Dienstag fortgesetzt