„Das stellt bisherige Erkenntnisse infrage“

■ Interview mit Professor Karl Sperling zum erhöhten Auftreten des Down-Syndroms in Berlin nach Tschernobyl

Neun Monate nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl sind nach einer Untersuchung von Professor Sperling in Berlin vermehrt Kinder mit dem Down-Syndrom geboren worden. Beim Down-Syndrom – auch als Trisomie 21 bekannt – ist das Chromosom 21 nicht zweimal, sondern dreimal vorhanden. Sperlings Team untersuchte die Häufigkeit dieser genetisch bedingten Krankheit von 1980 bis 1989 für West-Berlin. Im Januar 1987 wurden hier zwölf Kinder mit Down-Syndrom geboren, statistisch wären zwei oder drei Fälle normal gewesen.

taz: Herr Sperling, Ihre Aussage, wonach die erhöhte radioaktive Strahlung zum Zeitpunkt der Empfängnis die Ursache für das Down-Syndrom ist, ist wissenschaftlich umstritten.

Karl Sperling: Unsere Ergebnisse stehen im Gegensatz zu dem, was man in den Lehrbüchern als Ursache findet und was bisher Grundlage für die genetische Beratung ist. Deshalb haben wir unsere Studie besonders genau mit Daten belegt. Wir haben alle anderen Faktoren, die uns bekannt sind, ausschließen können. Wir haben eine signifikante Steigerung von Fällen im Januar 1987. Daß das ein Zufall ist, ist sehr unwahrscheinlich. Als Erklärung bleibt uns nur die erhöhte Strahlung. Vielleicht führt dies zu einem Umdenken.

Inwiefern?

Bisher gehen Wissenschaftler davon aus, daß der Prozeß der Fehlverteilung von Chromosomen kaum störanfällig ist. Das erklärt, warum man bisher außer dem fortgeschrittenen Alter der Mutter noch keine andere klare Ursache gefunden hat. Wir sagen jetzt umgekehrt, wahrscheinlich ist die Chromosomenverteilung besonders störanfällig. Deshalb ist es so schwierig, einen einzelnen auslösenden Faktor auszumachen. Aber das ist eine Hypothese. Jetzt muß man versuchen, diese Hypothese mit Fallkontrollstudien zu bestätigen, die wir gerade durchführen.

Wie können Sie bekannte Faktoren in Ihrer Studie sicher ausschließen?

Die wichtigsten anderen Faktoren sind das Alter der Mutter und die Zahl der vorgeburtlichen Untersuchungen bei Frauen über 35. Wenn dabei eine Trisomie 21 erkannt wird, entscheiden sich die meisten Frauen zum Schwangerschaftsabbruch. Diese Zahlen haben wir vollständig erfaßt. Wir konnten durch Angaben des statistischen Landesamtes auch das Alter der Mütter sehr detailliert aufschlüsseln. Bei den zwölf Fällen vom Januar 1987 unterscheidet sich die Altersverteilung der Mütter praktisch nicht von der der anderen Mütter, die Kinder mit Trisomie 21 geboren haben. Wir haben neun der zwölf Familien interviewen können. Danach konnten wir auch Besonderheiten der Lebensumstände ausschließen. Es kommt also nur ein äußerer Faktor infrage, das heißt die erhöhte radioaktive Strahlung zum Zeitpunkt der Empfängnis.

Wie können Sie nachweisen, daß die Strahlendosis nach Tschernobyl die Ursache war?

Der Effekt ist eindeutig. Der Fehler, der zu dem zusätzlichen Chromosom 21 geführt hat, läßt sich zeitlich sehr genau datieren. In den meisten Fällen trat der Fehler zum Zeitpunkt der Empfängnis ein, die genau in den Zeitraum der hohen radioaktiven Strahlung fiel. Das auffälligste in Berlin war die Belastung der Luft mit Jod 131. Die Berliner haben das radioaktive Jod, das eine relativ kurze Halbwertszeit hat, über zwei Wochen inhaliert. Wenn das Jod über den Blutstrom verteilt wird, erreicht ein Teil der Strahlung auch die Keimdrüsen. Hinzu kommt, daß Berlin, wie ganz Deutschland, ein Jodmangelgebiet ist, so daß die Aufnahme des radioaktiven Jods hier größer war als anderswo.

Welche Konsequenzen müssen aus Ihrer Studie gezogen werden?

Bei der genetischen Beratung sollte gefragt werden, ob um den Zeitpunkt der Empfängnis herum etwa eine Röntgenaufnahme stattgefunden hat. Genauso wichtig ist aber, jetzt nach anderen möglichen Faktoren zu suchen.

Welche wären denkbar?

Es gibt Hinweise, daß auch chemische Substanzen Trisomie 21 auslösen können. In einem Dorf bei Budapest haben Bewohner zum Zeitpunkt der Empfängnis Fisch gegessen, der eine sehr hohe Konzentration eines Parasitenmittels aufwies. Hier ist neben Fehlbildungen auch Trisomie 21 gehäuft aufgetreten. Aus einer Einzelbeobachtung kann man noch keine Schlüsse ziehen. Dies muß genauer erforscht werden. Interview: Dorothee Winden