Städtische Archäologie und Dialog

■ taz-Serie 2. Teil: Andreas Bracht und Achim Aisslinger über ihr Modell der Feldforschung

Wenn man einen Begriff wie „Vision 2000 plus“ zum Thema hat, scheint darin stillschweigend ein Zukunftsglauben mitzuschwingen, eine Hoffnung, die darin gipfelt, der Architekt könne diese Zukunft bebildern. Dies ist eine Annahme, die uns höchst suspekt erscheint. Einmal davon abgesehen, daß für das Jahr 2000 bereits alle Großprojekte Hamburgs geplant sind, glauben wir auch nicht, daß es die Vorstellungen der Architekten von ihrer persönlichen „Utopie der Bauformen“ sind, die man dringend diskutieren müßte. Allein der Glaube, daß der Architekt mit Geniebonus die städtebaulichen Wege in die Zukunft, und damit auch entscheidende Wege der sozialen Entwicklung der Stadt entwerfen soll, scheint uns fatal und letztendlich undemokratisch.

Wir wollen uns also gar nicht anmaßen, die Formen der Welt von morgen zu entwerfen. Unser Anliegen formuliert sich vielmehr bereits im Vorfeld des eigentlichen Entwurfs- und Planungsprozesses. Die zwingende Prämisse für eine nötige Vielschichtigkeit der Baukultur ist unserer Meinung nach eine Art Feldforschung oder Spurensuche. Diese Arbeitsweise kann sehr unterschiedliche Inhalte haben. Einige Möglichkeiten möchten wir hier anhand verschiedener and8-Projekte umreißen.

Die Realität gebauter Geschichtslosigkeit

Wir wechseln heute die Armbanduhr, den CD-Player, die Wohnungseinrichtung alle Jahre, wir wundern uns auch nicht, wenn unser Auto über Sprechfunk fährt. Neuerungen in Qualität und Design sind uns in der Warenwelt eine Selbstverständlichkeit geworden. Nur die Wohnform soll bitte konstant bleiben. Dieses Gefühl der Sicherheit in einer sich turbulent verändernden Informationsgesell-schaft ist einerseits verständlich, entwickelt aber auf der anderen Seite eine stark konservative Trägheit, deren Folgen fatal sind. Die meisten bauen eben nur einmal im Leben ein Haus und verlassen sich dann lieber auf das konventionelle Einfamilienhaus, das wirtschaftlich nur am Stadtrand zu verwirklichen ist. Die Folge ist die Schlafstadt, sprich das effiziente Wohnen, das effizientes Arbeiten zur ökonomischen Voraussetzung hat, und durch Monokultivierung die wahren Lebenszusammenhänge verschleiert.

Wir betrachten es trotzdem nicht als unsere Aufgabe, eine Fun-Arbeits-Wohnstadt zu entwerfen. Denn Stadt ist ein lebendiges Gebilde, dessen Atmosphäre im hohen Maße von toten Winkeln, verfallenden, seltsam sich selbst überlassenen Ecken, von Zufällen, Wucherungen und unberechenbaren menschlichen Reaktionen bestimmt wird. Stadt ist niemals die Aneinanderreihung von Bauten namhafter Architekten. Und die neuerdings von allen Stadtplanern wieder emsig gepriesene Urbanität ist doch nur da wirklich erlebbar, wo es jene Zufälle gibt, die alles sich ganz anders entwickeln lassen, als geplant. In Behörden verschanzte Stadtplanung aber neigt, so behutsam sie auch sein möchte, letztendlich immer zu Sterilität.

Und der Architekt, längst fern davon der gottähnliche Schöpfer von Stadt zu sein, ist primär Indikator für Bedürfnisse. Diese Bedürfnisse zu ergründen und sie nicht einfach dem vagabundierenden Kapital zu überlassen, das mit wechselnden Fassaden verklebte Büro-Riesen überall in der Welt aufstellen kann, wäre Aufgabe jener von uns propagierten Feldforschung. Daß diese mit sehr unterschiedlichen Methoden zu sehr vielgestaltigen Ergebnissen kommen kann, wollen wir im folgenden erläutern.

Neuralgische Punkte freilegen

Das Projekt Hammerbrook, das wir anläßlich des Bauforums 1993 entwickelt haben, ist ein radikales Modell für einen täglichen Zugriff auf Geschichte. Ein ganzes Stadtviertel war in der Aktion „Gomorrha“ 1943 ausgelöscht worden, zurück blieb eine meterdicke Trümmerschicht. Das einzige, was in dem heutigen Gewerbegebiet noch immer auf die ehemalige Anwesenheit eines intakten Stadtquartiers hinweist, ist die außerordentliche Bunkerdichte. Um diese Kriegs-Solitäre und die damaligen Fluchtwege herum haben wir eine variable Stadt auf Stelzen konzipiert, die den Blick auf die Nervenknoten der Geschichte ermöglicht, ohne sie nur als permanente steinerne Mahnrufe mißzuverstehen.

Material für die konkrete Konzeption lieferten uns dazu Interviews mit Zeitzeugen. Basierend auf Aussagen wie: „Nach den Luftbombardierungen konnte man bis nach Bergedorf blicken“, sollte diese neue Wohnstadt auf Stelzen stadtarchäologische Blicke freigeben, die ehemaligen Fluchtwege zu den Bunkern als Fußgänger- und Fahrradwege umgewidmet werden. Dieses entkoppelte Wegesystem würde nicht nur die bestehenden Straßen durchschneiden, sondern die Bunker zu zentralen Versorgungs- und Begegnungsstätten werden lassen.

Ein Bild von Schule

Wenn man unser für me di um Architekten entwickeltes Projekt der Grundschule in Volksdorf betrachtet, und Schule sozusagen als Knetgummi der Gesellschaft begreift, fragen wir uns schon, welche Aussagen über Zukunft wir überhaupt noch treffen können. Schulbau ist da ein gutes Beispiel, da dieser in Hamburg Jahrzehnte vernachlässigt wurde.

Bei diesem Projekt war unser Ziel nicht pädagogisch-manipulativ, wie es etwa Fritz Schumachers „erzieherische Schulbauten“ sein sollten. Wir fragten uns vielmehr, welche Erfahrungen wir als Schulkinder hatten, wie die Übergänge von spielerischem zu abstraktem, von sprachlichem zu handelndem Lernen aussehen. Was bedeutet der erste Eintritt ins Sozialgefüge, was das Wachstum in geistiger aber auch körperlicher Hinsicht. Statt Philosophie zu bauen, nutzen wir Philosophie, um uns dem Gegenstand anzunähern, und arbeiteten bei dieser Feldforschung durchaus metaphorisch-pädagogisch. So fanden sich in dem letztendlichen Entwurf schließlich Symbole des Wachsens (Ahornblatt für die Klassenräume), des gesellschaftlichen Maßstabes (Zollstock für die Verwaltung) und das Stecknadelkästchen für Sport und Bewegung als Bild von Schule.

Doch bei diesem Projekt mußten wir schmerzlich erkennen, daß die pädagogischen Ansätze zwar von vielen Beteiligten nach einigen Diskussionen verstanden und schließlich auch begeistert angenommen wurden, daß derartige Überlegungen einmal mehr dem Rotstift des Senats geopfert werden. Dessen schlichte Wahrheit lautet: Heute gibt es diese, morgen eine andere Theorie, her mit dem Allzweck-Lerncontainer. Und diesen wird Volksdorf jetzt auch bekommen, obwohl das von me di um vorgestellte ganzheitliche Konzept letztendlich nicht entscheidend teurer geworden wäre.

Bildatlas als Planungsgrundlage

Um der alten Eisengießerei in St. Pauli eine neue Nutzung zu geben, sie also funktional, visuell und inhaltlich in das Quartier einzubinden - quasi um ihr auf die Spur zu kommen - haben wir uns wochenlang mit einer beinahe kultur-historischen Feldforschung geplagt. Rechnungen, Schilder, Zeitungsausschnitte, Fotos und derlei Fundstücke mehr wurden archiviert, um eine objektivierbare Aussage zum Geist des Gebäudes zu erhalten.

Nach der Auswertung dieses Bildatlasses kam für uns an dieser Stelle nur temporäres Wohnen und kulturelles Arbeiten in Frage. Es wäre unverantwortlich, Leute an einer Straße wie der Budapester dauerhaft einzusperren. Es hätte unserer Planung nach an dieser Stelle Ateliers, Billig- und Musikerherbergen sowie eine Kulturstätte für Workshops und andere Aktivitäten geben sollen. Im willentlichen Widerspruch „entweihten“ wir so diese ehemalige Stätte der Arbeit, denn es war nie weihevoll dort.

Heute geschieht es natürlich oft, daß alte Fabrikfassaden stehenbleiben, um dahinter Büroglasquader hochzuziehen. Man hat sich inzwischen allgemein darauf geeinigt, daß alte Fassaden schön sind, nur, warum ein bestimmtes Stadtbild an einer bestimmten Stelle erhalten werden soll, kann eigentlich keiner beantworten. Die dahinter steckende Orientierungslosigkeit gibt auch der Hamburger „Klinker“-Diskussion eine so heuchlerische Note. Mit einem „So-ähnlich-Material“ erfüllt man eine städtische Alibifunktion, doch tatsächlich ist es sowohl den Architekten wie den städtischen Beamten egal, was hinter die rote Tapete kommt, und sie weigern sich, tatsächlich inhaltlich darauf einzugehen. Wir sind nicht gegen das Material Klinker, nur gegen die damit bezweckten Kaschierungsmaßnahmen.

Dialog mit der Sphäre

Um es noch einmal abschließend zu formulieren: Wir sind nicht der Meinung, daß die Form für die Architektur eine beliebige Größe ist, aber man sollte nicht von ihr ausgehen! Das Neue ist nicht die Form, sondern der Weg dorthin. Akzeptiert man es aber weiterhin, daß die Stadt von Architekten gebaut wird, die entweder überhaupt keine Beziehung zum Ort des Geschehens und der speziellen Bauaufgabe entwickeln oder die mit formalen Referenzen an den angeblichen Stadt-Stil den Bezug abgelten, dann wird die Stadt tatsächlich das peinliche Museum des Architekten. Dann handelt es sich plötzlich um einen Wiederbelebungsver-such des empfindlichen Genies, das sich beleidigt zurückzieht, wenn sein rosa Treppengeländer nicht finanziert wird.

Was eine sich entwickelnde Stadt aber braucht, die der Strangulation behördlicher und privater Großplanung entgehen möchte, wäre ein Dialog mit der Sphäre. Das kann ein historischer Dialog sein, ein pädagogischer, ein metaphorischer, ein philosophischer oder auch einfach ein zwischenmenschlicher über Bedürfnisse. Der Schlüssel unserer zukünftigen Aufgaben liegt in der Sensibilisierung und Überzeugung von Investoren, der öffentlichen Hand, der angeblich kein Bewegungsspielraum mehr vergönnt ist, und der Öffentlichkeit, die qua Anwesenheit plausible Forderungen an die gebaute Umwelt stellt.

Aufgezeichnet von Christoph Bannat