Zimmer 9.847 ist noch frei

Die Ruinen einer gigantischen „Kraft durch Freude“-Ferienanlage auf Rügen sollen zu neuem Leben erweckt werden / Großinvestoren wittern gute Geschäfte, Ökologen fürchten um die Insel  ■ Von Michaela Schießl

Am ersten Feriensonntag ist der Strand an Rügens Ostküste heillos überfüllt. Hüllenlos räkeln sich die Urlauber im Sand, basteln am Windschutz, werfen Bällchen und tun gerade so, als wäre nichts Besonderes. Sie haben ihre eigene Art, mit dem Monster umzugehen, das 50 Meter hinter ihnen schlummert. „Wir drehen uns einfach nicht um. Dann sehen wir das Scheusal nicht.“ Schließlich schläft der Koloß aus düsterer Zeit: das „Kraft durch Freude“-Seebad von Prora, einst gefeiertes Prestigeobjekt des NS-Staats.

Ein Alptraum, der mit dem Wort Gebäude nur unzulänglich beschrieben ist. Stahlbetonbauten, die exakt gescheitelt und strammgestanden in Reih und Glied und Augen geradeaus die Küste überwachen. Auf einer Länge von fünf Kilometern beugen sich gestrenge Kubenbauten über den Strand, mit genormten Wohnräumen, genormten Gängen, genormten Türen, genormten Treppenhäusern, funktionell und identisch wie Rekruten. 10.000 Zimmer, 80 Treppenhäuser, schier endlos lange Gänge. Wer hier seine Zimmernummer vergißt, ist verloren. Konzipiert wurde die Anlage für 20.000 Urlauber, und auch die sollten gleichgemacht werden. Unter dem Vorwand, günstig Kultur und Freizeit anzubieten, riefen die KdF- Organisatoren die „Volksgemeinschaft“ zusammen – um bei der kollektiven Erholung auch kollektiv zu kontrollieren, zu manipulieren und zu entmenschlichen. Diesem Zweck sollte ein riesiger Festsaal dienen, mit vorgelagertem Parade- und Jubelplatz.

Heute quetschen sich wieder Pusteblumen durch die Ritzen der verfallenen Steinplatten. Doch immer noch ragt die 400.000 Quadratmeter große Aufmarschplattform wie ein jähzorniges Kämpferkinn aggressiv ins Meer. Der 1936 begonnene Komplex wurde niemals fertiggestellt. 1939, kurz nach dem Richtfest, beendete der Krieg das Projekt. Der Rohbau wurde zunächst als Lazarett, schließlich für Flüchtlinge aus Ostpreußen und Hamburg genutzt. Nach Kriegsende versuchte die Rote Armee den Nazibau zu sprengen. Doch der Stahlbeton war für das tausendjährige Reich angerührt. Das Skelett blieb stehen – das Monstrum schien unverwundbar. So zog zunächst die Rote Armee ein, später übernahm die Nationale Volksarmee. Mittlerweile gehört Prora dem Bund, doch die Rügener Ostküste zieht Wahnsinnsideen weiterhin magisch an. Die Oberfinanzdirektion Rostock will das denkmalgeschützte KdF-Seebad loswerden. Gesucht wird ein Großinvestor, der die Gesamtanlage für 100 Millionen Mark übernimmt. „Ein Wahnsinn ist das“, findet Umweltschützer Hans Dieter Knapp. „Die verkaufen einfach ihre Geschichte.“ Für ihn ist Prora ein Denkmal zweier größenwahnsinniger Systeme und der Verkauf eine Flucht vor der Vergangenheitsbewältigung. Vor allem aber wird Prora zur Gefahr für die Entwicklung Rügens, sollte ein einzelner Finanzier die Alleinherrschaft über das Areal erhalten. Der nämlich wird sich wenig scheren um die Naturbelassenheit der Insel, der will gute Verkehrswege, viel vom knappen Trinkwasser, genügend Elektrizität und willige Arbeitskräfte. „Wer Prora in der Hand hat, hat Rügen in der Hand“, wettert die „Bürgerinitiative für Rügen“.

Die Rahmenplanung, die eine Kopenhagener Ingenieursholding im Auftrag der Gemeinde Binz für 200.000 Mark angefertigt hat, gibt Anlaß zu Alarmsignal rot. „Das ist ein hingerotzter Scheiß“, teufelt Hans Dieter Knapp. „Nichts steht drin, aber ein paar Computerfasane als Verzierung. Das soll wohl den Umweltschutz darstellen.“ Doch da sind die Grafiker an den Falschen geraten. Knapp ist Biologe. Und weiß genau, daß es auf Rügen gar keine Fasane gibt. „Die passen genausowenig hierher wie raffgierige Großinvestoren.“ Auf Rügen hat man gelernt, sich in acht zu nehmen vor den netten Onkels mit den dicken Beulen im Sakko. „Die haben uns über den Tisch gezogen wie in der Kolonialzeit“, erinnert sich Marlies Preller vom Naturschutzbund. „Für ein paar Westmark wurden Wassergrundstücke hergegeben, nun darf man zusehen, wie darauf Hotelanlagen entstehen.“

Doch die Ökologen schlagen zurück. Als erstes erwischte es Willi Plattes, einen Wessi. Er mußte sein nagelneues Haus abreißen lassen, das er in ein Biosphärenreservat gebaut hatte. Er hoffte auf eine nachträgliche Genehmigung durch den freundlich verbundenen CDU-Landrat Klaus Eckfeldt. So ein Pech aber auch, daß der über seine Stasi-Vergangenheit stolperte. Frieder Jelen, Biosphärenreservats-Fan und mittlerweile CDU-Umweltminister für Mecklenburg-Vorpommern, ließ die Hütte sofort platt machen. Seither ist Jelen das Haßobjekt von Plattes, der sich in Berlusconi-Manier eine eigene Zeitung zugelegt hat. Der Rüganer erscheint kostenlos und geifert mit Vorliebe gegen alles, was grün ist und somit den Aufschwung bremst.

Da hat er einiges zu schreiben, denn die Angst vor dem Großinvestor führt auf Rügen zu den seltsamsten Koalitionen. Die BI für Rügen hat sich ein „parlamentarisches“ Standbein geschaffen, den „Verband für Rügen“. Darin sind zum einen die Ökologen versammelt, zum anderen die Blockflöten aus der einstigen Bauernpartei – eine bundesweit wohl einmalige Konstellation. Gemeinsam mit der SPD und der PDS drückte das Bündnis am 12. Juni Karin Timmel als Landrätin durch – eine parteilose Umweltspezialistin. „Ich will eine allseitige, sozial- und umweltverträgliche Lösung für Prora. Eine Mischnutzung: Wohnungen, Büroräume, Tourismus, Gewerbe, Kranken- und Kurhäuser, Museen und Theater, die allen Rüganern zugute kommt.“ Gemeinsam mit den Umweltschutzorganisationen fordert sie eine „Entwicklungsgesellschaft Prora“ unter Beteiligung von Bund, Land, Kreis, Gemeinden. „Die Verantwortlichkeit an einen einzelnen abzugeben ist schlicht eine Überforderung. Mit mir ist Prora in der bisherigen Form nicht zu machen.“

Tatsächlich läßt der Rahmenplan fast alles offen, auch die Option auf eine Bettenburg nach spanischem Vorbild. 15.000 Parkplätze zeichnet er aus – 15 Hektar Blechlawine auf Rügens malerischen Alleestraßen. Tourismushorror der Superlative? Man stelle sich vor, wie der Hotelportier die Leiter am meterhohen Schlüsselbrett erklimmt und die Zimmernummer 9.874 herunterangelt. Ein paar Rollschuhe gibt's gratis dazu, um schneller durch die Gänge zu kommen. Am Ausgang wartet die Hotelbahn, die den Gast in sein drei Kilometer entferntes Zimmer bringt. Linie 2 transportiert ihn zum Aquapark und Ostseezoo, Linie 3 stoppt am Consuming-Center. Von dort aus ist es nur noch ein Katzensprung von 800 Metern bis zur Kurhalle, gleich neben Hitlers Paradeplatz.

„Das ist doch auch eine Mischnutzung“, findet Raymund Karg von der Oberfinanzdirektion Rostock und kann die Aufregung gar nicht verstehen. Wenn es nach ihm geht, wird er noch in diesem Jahr an einen der fünf Inserenten verkaufen: drei Unternehmen aus Leipzig, der Schweiz und Magdeburg und zwei Einzelbewerber aus Hamburg und Weimar.

Umweltminister Jelen wird Engelszungen schnalzen lassen müssen, um den Verkauf zu stoppen. Denn Machtmittel sind dem Pfarrer nicht gegeben. Das Raumordnungsverfahren – die Voraussetzung für eine Umweltverträglichkeitsprüfung – liegt ungewöhnlicherweise im Kompetenzbereich des Wirtschaftsressorts. Seine Partei- und Ministerkollegen stellen sich stur.

Unterstützung findet der Konservative sogar bei gestandenen Sozialisten. Hans Marquardt, einstiger Chef des DDR-Reclam-Verlages, aktiviert in der Sache Prora seine Kontakte zum PEN-Club und zur Journaille. Dann hockt sich der 73jährige in Orson-Welles- Manier auf seine Terrasse, blickt hinüber auf die idyllische Insel Vilm und knurrt: „Wollen wir doch mal sehen. Die müssen ja nicht alles haben, die Kapitalisten.“

Buchtip: J. Rostock, „Paradiesruinen“,

Christoph Links Verlag Berlin