■ Während der heutigen Sondersitzung des Bundestages streiten Wahlkämpfer um die Auslegung des Karlsruher BVG-Urteils zu Out-of-area-Einsätzen der Bundeswehr.
: Kampfeinsatz der Interpreten

Während der heutigen Sondersitzung des Bundestages streiten Wahlkämpfer um die Auslegung des Karlsruher BVG-Urteils zu Out-of-area-Einsätzen der Bundeswehr.

Kampfeinsatz der Interpreten

Wenn am Ende der Bundestagssondersitzung heute mittag die Stimmen ausgezählt sind, werden auf den in der Adria kreuzenden Fregatten „Rommel“ und „Lübeck“ die Fernschreiber rattern: Der Verteidigungsminister übermittelt prompt neue Einsatzbefehle. Die Bundesmarine muß potentielle Blockadebrecher künftig nicht mehr nur aufspüren, sondern auch zum Stoppen bringen und durchsuchen – zur Not auch mit einem Schuß vor den Bug.

Zwei laufenden Auslandseinsätzen soll das Parlament nach dem Willen der Bundesregierung heute zustimmen, denn nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat das Kabinett den Bundestag übergangen, als es die Soldaten losschickte. Der Regierungsantrag aber geht noch weiter: Die deutschen Soldaten sollen bei der Sicherstellung des Embargos in der Adria und den Awacs- Flügen denen anderer Nato-Mächte gleichgestellt, ihr Auftrag („rules of engagement“) also ausgeweitet werden.

Außen- und Verteidigungsministerium dramatisieren gerne: Ob die Matrosen und das Flugpersonal so dringlich auf die Klärung ihrer Einsatzgrundlagen gewartet haben, wie seit Tagen behauptet wird, ist fraglich. Denn in der Adria ist bislang erst ein einziges Schiff gestoppt worden. Und trotz organisatorischer Schwierigkeiten haben die Awacs-Einsätze funktioniert, ohne daß deutsche Besatzungen mitfliegen durften, wenn über Österreich oder Ungarn Nato-Gebiet verlassen wurde.

Trotzdem müssen die Bundestagsabgeordneten für die Sondersitzung eigens den Urlaub unterbrechen. CDU/CSU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble, selbst kein Promotor einer Sondersitzung, hatte ein schönes Argument ins Feld geführt. Nach seiner Darstellung berichteten Außen- und Verteidigungsminister im Kabinett vom Drängen der Nato-Partner nach einer schnellen Umsetzung des Urteils. Die Schutzbehauptung erwies sich schnell als Lüge: Bonner Diplomaten stellten klar, ihre Regierungen hätten keineswegs gepuscht.

Weder vom Karlsruher Urteil vorgeschrieben noch politisch sinnvoll ist das rund 200.000 Mark teure Unternehmen „Sondersitzung“. Aber FDP-Chef und Außenminister Klaus Kinkel wird die Gelegenheit nutzen, sich als Staatsmann von Statur zu präsentieren. Und nachdem die Hausjuristen der Fraktionen zehn Tage Zeit hatten, das Urteil zu studieren, sind die Wahlkämpfer munitioniert für die dreistündige Auseinandersetzung: Im Parlament wird keine friedenschaffende Sitzung zu erleben sein, sondern ein Kampfeinsatz der Interpreten, in dem jede Seite die BVG-Entscheidung als eigenen Sieg feiern wird.

Das Urteil läßt in zentralen Fragen Interpretationsspielraum. In den Augen der Union erlaubt es auch Einsätze deutscher Soldaten nach einem Beschluß des UN-Sicherheitsrates, wenn die UNO bei der militärischen Operation nicht den Oberbefehl führt. Bekanntestes Beispiel einer solchen Operation: der Golfkrieg. Die Sozialdemokraten halten dagegen, ein „Einsatz nach Muster des Golfkriegs“ sei nicht gedeckt. Großzügiger als die SPD interpretiert die Union auch die Bündnisfrage. Ihre Experten lesen aus dem Urteil, daß auch die Nato und die Westeuropäische Union (WEU) kollektive Sicherheitssysteme bilden. Auch ohne Beschluß des Sicherheitsrates können deutsche Soldaten ihrer Meinung nach bei Nato- oder WEU-Aktionen mitmachen.

Spannend wird es heute bei den Sozialdemokraten. Vorhersagen, wie die Genossen sich aus dem selbstbereiteten Dilemma lösen wollen, wollte gestern niemand abgeben: Einerseits müssen die Wahlkämpfer die Bereitschaft zu Regierungsverantwortung demonstrieren, auf der anderen Seite die programmatische Differenz zur Koalition stark machen.

Ginge es nur um die nachträgliche Zustimmung zur Entsendung deutscher Soldaten zu Überwachungsflügen und zur Embargoüberwachung, hätten die Genossen weniger Schwierigkeiten. Aber die Ausweitung der Einsatzbefehle wird vor allem der Parteilinken Bauchschmerzen bereiten.

Völlig offen ist auch noch, wie die wenigen Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, die alle aus den neuen Ländern stammen und in Verteidigungsfragen nicht der pazifistischen Parteilinie folgen. Für sie steht nur fest: Die Sitzung ist überflüssig, „ein teurer Trick der FDP, sich bemerkbar zu machen“ (Vera Wollenberger).

Wichtiger als der heutige Beschluß wird die Debatte um ein „Entsendungsgesetz“, die das Kabinett auf die Zeit nach der Bundestagswahl verschoben hat. Das Gesetz soll das Verfahren regeln, in welchen Fristen und mit welchen Mehrheiten das Parlament Auslandseinsätzen zustimmen muß. Nicht nur ein Konflikt zwischen der Union, die möglichst wenig Restriktionen anstrebt, und der FDP bahnt sich in dieser Frage an. Innerhalb der liberalen Fraktion streiten die Abgeordneten, ob mit einer Verfassungsänderung für bestimmte Einsätze nicht doch eine absolute Mehrheit der Stimmen (Kanzlermehrheit) festgeschrieben werden soll. Nach dem Karlsruher Urteil würde die einfache Mehrheit genügen. Hans Monath, Bonn