: Prothesen aus Hightech-Labor
■ Schnitzwerkstätten und AOK-Modelle sind out: Seit den Paralympics von Seoul und Barcelona läuft in der Orthopädie-Branche ohne Spitzentechnologien gar nichts mehr
Die Dankbarkeit des Medaillengewinners kannte schier keine Grenzen. Die Trophäen des Österreichers Andreas Siegl, der bei den letzten Paralympics 1992 in Barcelona Silber im Hoch- und Bronze im Weitsprung holte, baumelten nicht allzu lange um den Hals des beinamputierten Spitzensportlers. Er schenkte sein Edelmetall dem Mann, den er für den Vater des Erfolgs hält: Veit Biedermann – nicht etwa sein Trainer, sondern ein Berliner Orthopädie-Techniker, der ihn seit Jahren mit ausgetüftelten Spezial-Prothesen versorgt.
„Höher, schneller, weiter“ – die Devise gilt natürlich auch im Behindertenleistungssport. Doch zu Rekorden und Medaillensegen gehören bei den Leichtathleten mit Handicap mindestens zwei: eine Sportskanone und sein technischer Ausrüster. Anders als bei den nichtbehinderten Leichtathleten, bei denen neben Muskelkraft, dem Können des Coaches und Trainingseifer die Technologie eine eher untergeordnete Rolle spielt, entscheiden hier Prothesen-Mechaniker und Rollstuhl-Konstrukteure über Bestzeiten und -weiten.
Seit den Paralympics von Seoul und Barcelona hat die Orthopädie- Branche ein rasantes Tempo vorgelegt. Einst Schnitzwerkstätten für Holzbeine oder Hersteller plumper AOK-Chopper, hat sich die Branche zur Hightech-Industrie gemausert: Mikrochip-gesteuerte Kniegelenke für Prothesen oder ultraleichte Rollis, mit denen Top-Leute Geschwindigkeiten von bis zu 40 Stundenkilometern erreichen, gehören längst zur Produktpalette.
Die dreirädrigen Rennrollis seien inzwischen genauestens auf die Behinderung und Statur des einzelnen Sportlers ausgerichtet, sagt Birgit Vogel, Werbeleiterin der Heidelberger Firma Sopur, führender Hersteller solcher Flitzer. Die „Trucks“, im Schnitt 1,2 Meter lang und 7,5 Kilogramm leicht, seien „paßgenau wie ein Handschuh“. Ausgestattet mit dünnen Greifreifen, Bremse und Steuerungsinstrument kosteten die Alu-Geräte um die 6.000 Mark, so Vogel. Der „Bahnanschlagshebel“ macht es den Fahrern möglich, ihren Sprint-Chopper mit einem einzigen blitzartigen Handgriff sicher durch Stadionkurven zu lenken. Je nach Beschaffenheit des Stadionrunds wird der Steuerhebel vor jedem Rennen justiert. Vor der Kurveneinfahrt kurz angetippt, stellt sich die Steuerung beim Einbiegen in die Gerade automatisch wieder um.
Auch für Wettkämpfer mit fehlenden Gliedmaßen hat sich einiges getan. Die Einzelteile für Sportprothesen, wie sie etwa das in Duderstadt ansässige Unternehmen Otto Bock produziert, sind längst voll und ganz auf dynamische Bewegungen zugeschnitten. So würden in die künstlichen Kniegelenke der Ersatzglieder Hydraulikzylinder eingebaut, die auf die beim Sprinten entscheidende Schwungphase programmiert seien, sagt Gunter Schumann, WM-Repräsentant der Firma Bock, mit weltweit 140 Niederlassungen der Gigant der Orthopädie-Branche.
Doch so ausgeklügelt die Technik auch immer ist – ohne geschickte Handwerker wie Biedermann läuft gar nichts. Von den Orthopädie-Technikern werden die maschinell aus Carbonfaser, Flugzeugaluminium und Titan hergestellten Teile zusammengesetzt. Filigranarbeit pur: „Jede Prothese ist eine Sonderanfertigung“, sagt Biedermann.
Die meisten Läufer und Springer gingen heutzutage mit einem Ersatzglied an den Start, an das eine Carbonfeder als künstlicher Fuß angeschraubt ist. Die Feder, die beim Auftreten zusammengestaucht werde, setze beim Abrollen des Kunstfußes enorme Kraft frei, erklärt der 39jährige. Dafür, daß Prothese und Stumpf nahezu bombenfest sitzen, sorgt der „Saugschaft“, ein hohlräumiger, nach Gipsabdruck angefertigter Kunststoffschenkel. Beim Anlegen der Prothese wird mit einem Ventil die Luft herausgepreßt, so daß optimaler Halt entsteht. Kostenpunkt für ein solches Ersatzteil: satte 15.000 Mark. Für Sportler aus ärmeren Ländern sind solche „Hightech-Prothesen“ schlicht unerschwinglich.
Daran liegt es wohl auch, daß meistens gehandicapte Sportler aus wirtschaftlich potenten Nationen Pokale und Preise abräumen oder eben Weltrekorde wie der US-Sprinter Tony Volpentest aufstellen: Der beidseitig unterschenkelamputierte Sportsmann lief in Barcelona die hundert Metern in 11,2 Sekunden – Sprint-Asse ohne Behinderung, wie etwa Carl Lewis, sind nicht einmal zwei Sekunden schneller. Frank Kempe
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen