Hamlet in vier Tagen?

■ Meyerhold und die Folgen: „Bewegendes“ Theater aus West- und Osteuropa derzeit im Mime Centrum

Inmitten der ohrenbetäubenden Geschäftigkeit der Schönhauser Allee und hinter einem der unzähligen Neon-Kitsch-Läden tut sich im Haus Nummer 73 ein ungewöhnlicher Hof auf: Das Mime Centrum Berlin hat sich hier angesiedelt und arbeitet seit 1990 unter der Leitung Thilo Zantkes und mit der theaterpädagogischen Betreuung Ralf Räukers.

Hier kann man ein kontinuierliches Training der biomechanischen Etüden nach W. E. Meyerhold, dem einstigen Schüler, Freund und Konkurrenten von Stanislawski machen. Biomechanik, das ist „ein Trainingssystem für Schauspieler, das die physische Handlungsfähigkeit an den Anfang jeder theatralen Erarbeitung stellt“, wie Ralf Räuker kurz zusammenfaßt.

Die Übungen heißen „Steinwurf“, „Narr“ oder „Ohrfeige“. Beim „Steinwurf“ beispielsweise sieht man einen Schauspieler weit ausholen: Was zählt ist nicht die Handlung selbst – hier also der Wurf des Steines –, sondern ihre Vorbereitung. Man verlagert die Aktion auf die Bewegung vor der eigentlichen Bewegung, auf die Gegenbewegung: statt werfen also ausholen und nur andeutungsweise werfen. Dadurch hält man innerlich einen Teil der Energie zurück und drückt doch aus, was auszudrücken ist. Sagt Meyerhold.

Der russische Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter Wsewolod E. Meyerhold wurde 1940 von den Stalinisten wegen vermeintlicher Doppelspionage umgebracht und 1955 rehabilitiert. Seine biomechanischen Etüden sind etwa 80 Jahre alt, und noch heute lebt ein Schüler, der das Trainingssystem am eigenen Leibe erfahren hat: Gennadi Bogdanov. Dieser arbeitet heute eng mit dem Mime Centrum Berlin zusammen. Er und viele andere Theaterregisseure, Tänzer und Choreographen bieten hier ihre speziellen Arbeitsformen in Blockseminaren an.

Das Angebot richtet sich sowohl an TeilnehmerInnen, die bereits eine Grundlage im Bewegungstheater haben, als auch an AnfängerInnen. Auch in Amsterdam gibt es ein Schauspielzentrum, daß sich eigens der Meyerholdschen Methode widmet. Warum Meyerhold, warum Biomechanik? Der Schauspieler Martin Kummer sagt: „Das Mime Centrum Berlin widmet sich Meyerhold, um aus der Beliebigkeit der Postmoderne herauszukommen.“ Das mag heißen: Die Etüden geben eine feste Form vor, in der man dennoch frei gestalten kann. Im Gegensatz zum psychologisch-realistischen Prinzip der Einfühlung in die Figuren à la Stanislawski stellt die Biomechanik die Körperlichkeit der Schauspieler an die erste Stelle, sie analysiert sie – eine Fortsetzung des Materialismus mit künstlerischen Mitteln?

Vielleicht. Statt von Biomechanik kann man auch von der Ökonomie der Bewegung sprechen. Meyerhold wollte dem Schauspieler ermöglichen, innerhalb kürzester Zeit eine Rolle zu erarbeiten – eine Figur kann in vier Tagen stehen, wenn man sich von außen annähert, rein von den Gesetzmäßigkeiten des handelnden Körpers ausgehend.

Die Grenze zum Formalismus scheint hier sehr nah, ein Vorwurf, der Meyerhold häufig gemacht wurde. Und fraglich ist auch, inwieweit sich die Methode für Literaturtheater eignet. Im Mime Centrum kann man sich als Publikum dementsprechend auch keine Inszenierungen ansehen, sondern Werkstattdemonstrationen körperorientierter Theaterarbeit.

Gegründet hat sich das Institut dank einer großzügigen Anschubfinanzierung des Mime Centrums Amsterdam. Bis heute wird diese Patenschaft vom Auswärtigen Ministerium der Niederlande mitgetragen. Außerdem erhalten die Kulturschaffenden des Berliner Centrums Unterstützung vom Land, der Stiftung Kulturfonds und vom Bezirksamt Prenzlauer Berg.

Der sowjetischen Tradition ihrer Methode entsprechend ist auch der künstlerisch-praktische Austausch zwischen Ost- und Westeuropa einer der wichtigsten Arbeitsschwerpunkte des Mime Centrums Berlin. In zahlreichen theaterpraktischen Seminaren, Werkstätten und Symposien findet die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Gruppen etwa aus den Niederlanden, Frankreich, Polen und der Tschechoslowakei statt.

Seit letzter Woche ist die MAPA-Moving Academy for Performing Arts im Prenzlauer Berg zu Gast. Die MAPA, eine durch Europa „wandernde“ Akademie mit Sitz in Amsterdam, war zuvor in Zagreb, und hat bis 28. September im Prenzlauer Berg ein vielseitiges Programm zu bieten: Von Workshops zur „Dramaturgie der Bewegung“ bis hin zu Seminaren über „Video/Projektionen“ reicht das Angebot.

Die Workshops sind zwar weitgehend ausgebucht, aber zumindest bei den Arbeitsdemonstrationen kann man versuchen, sich ein Bild davon zu machen, wie denn auf der Bühne aussieht, was mit dem Training von „Narr“ oder „Ohrfeige“ beginnt. Olivera Stevanovic/peko

Die MAPA-Studio-Veranstaltungen finden teilweise im Rahmen von „Tanz im August“ statt, Informationen darüber und zu laufenden Workshops der MAPA etc.: Mime Centrum Berlin, Schönhauser Allee 73, Tel.: 445 70 70, Fax: 445 70 72.