■ Gemeinsames pflegen
: Freiheit verbindet

Gemeinsames pflegen

Freiheit verbindet

Nicht nur unsere Politik, sondern nach allen Anzeichen auch die übergroße Mehrheit der Bevölkerung votiert derzeit für eine Intensivierung gesellschaftlicher und staatlicher Kontrolle und für einen Abbau von Freiheitsrechten. Die neuen Ermittlungsmethoden, welche in den Polizeigesetzen der Länder und in der Strafprozeßordnung in jüngster Zeit abgesegnet worden sind, haben es in sich: Verdeckte Ermittler, Rasterfahndung, langfristige Beobachtung, Erweiterung der Telefonüberwachung, optische und akustische Inspektion der privaten Räume eröffnen Möglichkeiten der Kontrolle, von denen man vor ein paar Jahren hierzulande noch nicht einmal geträumt hat. Auch im Bereich staatlicher Leistungen haben wir unsere Unschuld verloren. Wir befürchten verbreiteten Sozialbetrug und lassen flächendeckend, ohne einen bestimmten Verdacht, Datenabgleich zu.

Am schlimmsten trifft es die Leute, die als Fremde in unser Land wollen, Asylbewerber werden dem automatisierten Fingerabdruckverfahren Afis unterworfen – genau wie Menschen, die einer Straftat verdächtig sind, aber hier eben ohne einen solchen Verdacht.

Was ich beschrieben habe, ist unser aller Kontrollklima, nicht das eines gesellschaftsfernen Gesetzgebers, genauso wie auch die wachsende Gewalt gegen Ausländer unser aller Gewalt ist und kein Phänomen, das wir dem Gesetzgeber zur Klärung und Beseitigung zuschieben könnten. Das Gewaltproblem ist erst zuletzt ein Problem der Gesetzgebung, zuerst ist es das Problem der Menschen und der Gesellschaft.

Auf all das reagieren wir defensiv: mit Gesten der Mahnung, der Beschwichtigung oder bestenfalls der normativen Vergewisserung, nämlich der Verständigung darüber, daß wir doch gar nicht so wenige sind, die all das verurteilen.

Das ist zuwenig, und es ist auch das Falsche. Wir haben keine positive Vorstellung davon, wie unser Verhältnis zu den Ausländern sein soll, wir haben keine Vision eines guten Lebens miteinander. Wir wissen aber, was wir nicht wollen: Gewalt, Abbau von Garantien, Ungleichbehandlung. Aber wir wissen nicht mit derselben Vorstellungskraft, was wir wollen. Diejenigen, welche der bedrohlichen Gewalt, der herrschenden Sicherheitsorientierung und den wachsenden Kontrollbedürfnissen eine Orientierung an Freiheit und Menschenrechten entgegensetzen wollen, agieren ängstlich, abwiegelnd, bremsend und mit Mitteln, die nur gut gemeint sind: Gutes Zureden, wechselseitige Aufforderung zu Zivilcourage, Lichterketten sind aber nicht genug.

Es ist klar, daß wir eine positive und inhaltliche Vorstellung von einem guten Leben mit Ausländern nicht dadurch gewinnen können, daß wir sie uns dringend wünschen. Das alles hängt ja nicht am bösen Willen oder am verbrecherischen Entschluß – also an etwas, das man, wenn man halbwegs bei Verstand ist, auch lassen könnte; es liegt an Zwängen, unter denen wir stehen, an Erfahrungen, die wir machen, und an der Schwäche, die uns lähmt. Es ist auch nicht so, daß unsere Unfähigkeit ein bloßer Spiegel äußerer Verhältnisse wäre, genauso wie die Furcht vor Kriminalität kein Spiegel der realen Kriminalität ist. Es ist auch nicht so, daß die gleichmäßige Behandlung der Ausländer im Recht nur an der objektiven Ausstattung mit Rechten hinge; sie krankt offenbar auch daran, daß die Ausländer die Rechte, die sie haben, subjektiv zuwenig beanspruchen und nutzen: All diese Probleme wurzeln, wie man sieht, in tieferen Irritationen und Ängsten, und ich sehe kein Heilmittel, das schnell und zuverlässig wirken könnte.

Uns kommen derzeit normative Selbstverständlichkeiten abhanden, und unser Verhältnis zu den Ausländern hat damit zu tun. An diesem Punkt könnte man neu ansetzen.

Die Wissenschaftler nennen dieses Abhandenkommen alltäglicher Verhaltensregeln „Normenerosion“ und meinen damit, daß die Handlungsgrenzen und Verhaltensstile, die einmal selbstverständlich waren, nicht mehr gelten. Soziale Normen büßen ihre Kraft ein, und mit ihnen verlieren die Menschen Orientierungssicherheit – eine Sicherheit, die lebenswichtig ist und die nicht nur durch die Erosion von Alltagsregeln, sondern überdies durch andere Kennzeichen der modernen Welt bedroht ist: durch globale Risiken wie etwa Umweltzerstörung und durch Lebensrisiken wie etwa Arbeitslosigkeit. Alles zusammen ist in meinen Augen eine explosive Mischung fundamentaler Irritationen, vor der Rechte anderer keine Chance mehr haben.

Ich beziehe mich auf die Auseinandersetzungen um die „Normenerosion“ nicht im Sinne eines matten Wertekonservatismus, der sonntags den allgemeinen Werteverfall beklagt und ihn werktags fördert, indem er die Lebensbedingungen der Schwachen noch verschärft. Ich meine das vielmehr im Sinne einer offensiven Verteidigung der Normen, die uns immer noch verbinden und die unsere gute Tradition der europäischen Aufklärung ausmachen: der Prinzipien größtmöglicher Freiheit der Bürger und der gleichen Verteilung von Rechten unter allen.

Wenn wir uns fragen, was Ausländer und wir in Deutschland wirklich gemeinsam haben, dann sind das ja nicht Geschichte, Sprache oder Kultur; das trennt uns eher. Was uns verbinden kann, sind vielmehr Freiheits- und Menschenrechte. Diese Rechte sind vielleicht das einzige Ferment, das Einheit stiften kann – nicht nur in unserem Verhältnis zu den Ausländern und deren Verhältnis zu uns, sondern auch in unserem Verhältnis miteinander. Die Botschaft der Vorstellung von der Normenerosion ist ja, daß eine Gesellschaft, der die normativen Selbstverständlichkeiten wegbrechen, nicht mehr integrieren kann, daß sie ausgrenzt, abgrenzt und ihre Probleme abschiebt – auf Schwächere, auf den anonymen Staat. So gesehen, könnte ein offensives Eintreten für größtmögliche Freiheit und für Gleichheit im Recht, ein Eintreten für einen gleichmäßigen Schutz der Privatheit bei Ausländern und Deutschen, eine kraftvolle Unterstützung unserer Integration sein. Dr. Winfried Hassemer

Der Autor ist hessischer Datenschutzbeauftragter