: Der Haarschopf in der Abtönfarbe
Künstler-Fortbildung: Die internationale Sommerakademie für Workshops in Schleswig-Holstein ■ Von Michaela Schießl
Mathias ist Hundefutter-Verkäufer, und er ist erfolgreich. Doch einmal im Jahr läßt er das Chappi in der Ecke stehen und geht seiner großen Leidenschaft nach: der Kunst. Mathias ist gescheiterter Maler. Zwei Jahre lang mühte sich der Germanist und Kunsthistoriker, bis er nüchtern befand: unbegnadet, also brotlos. Er wechselte in die Wirtschaft und bemüht sich am Feierabend um die Kunstvermittlung.
Zur Belohnung schickt er sich jedes Jahr auf Fortbildung: in die internationale Sommerakademie der Schleswig-Holsteinischen Landes-Arbeitsgemeinschaft (LAG) Kunst. Hier, am Ende der Welt, wird er zehn Tage lang kein einziges Mal an Weißblechdosen denken. Denn die Veranstaltung auf dem Jugendhof Scheersberg nahe der dänischen Grenze ist ein echter Geheimtip: 82 Kunstbegeisterte zwischen 16 und 62 Jahren, die Tag und Nacht und ohne Unterlaß buddeln und bauen, werkeln und filmen, singen, tanzen, Theater machen. Alles auf englisch: Finnen sind hier, Schweden, Dänen, Esten, Letten, Litauer, Russen, Polen, Rumänen, Schweizer und Deutsche.
Wenn hier die Lage aussichtslos erscheint, ist die Welt in Ordnung. Dann ist das Motto der diesjährigen Sommerakademie erfüllt: Labyrinth. In sieben Werkstätten wird sich verlaufen, an Wände gestoßen, werden Auswege gefunden oder Gefängnisse installiert. Nach wenigen Tagen wird der Spaziergang über das Gelände zum Irrgarten: Reusen hängen in den Bäumen, hölzerne Spinnenweben versperren den Weg, tönerne Finger ragen wie skurril geformte Kuhfladen aus der Erde. In Baumstümpfen stecken Strohhalme zwischen Baum und Borke, und das Amphitheater hat Zuschauer bekommen: Tonköpfe, in Plastik verpackt, stecken auf Holzlatten und schauen wie Delinquenten auf die leere Bühne hinab.
Das Labyrinth der Kunstbegeisterung kennt keine Grenzen. Die Land-Art-Gruppe sucht die verschlungene Sprache der Natur, die Musiker versinken im Gewirr der Rhythmen, die Videofilmer irren zwischen Schnittstellen und Kameraführung, die Theatergruppe steigt ins Labyrinth der tiefsten Gefühle. Überall tauchen Hände in Farbe, Mülleimer werden geplündert, schwangere Bäuche auf Leinwände gepreßt. Haare sind zum Malen da, findet eine Teilnehmerin aus der Gruppe „ästhetische Prozesse“, und taucht den Schopf in die Abtönfarbe.
Die Gruppen arbeiten nicht isoliert: Die Fotografen lassen sich von den Land-Art-Leuten inspirieren, die Musiker spielen den Malern vor, und die Videofilmer drehen eine Persiflage auf die Theaterleute. „Da mußt du mal an der Tür lauschen, die brüllen und heulen, und sind außer Rand und Band“, befindet Niels Reise, Leiter der Werkstatt Filmwelten. Der 28jährige ist Dozent an der Filmhochschule Stockholm und – wie die anderen Gruppenleiter – ein „echter Profi“.
Denn den Erfindern der Sommerakademie, die Lübecker Kunstlehrerin Angela Hartig und der Bielefelder Kunstdozent Klaus-Ove Kahrmann, ist an Qualität gelegen. „Die Akademie ist offen für Künstler und Nichtkünstler, doch die Leitungen müssen erstklassig sein.“
Durch das Prinzip Werkstatt soll ein integrativer Ansatz umgesetzt werden: „Die Modelle rezeptive Hochkultur einerseits und esoterisches Schaffen andererseits taugen nicht mehr. Wir suchen einen Weg, Menschen ganz direkt an Kunst heranzuführen, Kunst erfahrbar zu machen und sich künstlerisch, kulturell und sozial austauschen zu können.“
Das Modell hat bereits Nachahmer gefunden: Ein Professor aus Polen, der vergangenes Jahr den Performance-Workshop leitete, setzt das Modell in seiner Heimat um. Für Kahrmann sind die Polen die Kreativsten überhaupt: „Die haben unglaubliche Ideen.“ Fehlende Stringenz der Umsetzung lernten sie dann in Schleswig-Holstein. Kulturzusammenführung erster Klasse, mit der sich die schleswig-holsteinische Landesregierung schmücken könnte – wäre sie nicht so geblendet von den glitzernden Festivals der Hochkultur. Der am Rednerpult vollmundig geforderte internationale Austausch findet in aller Stille statt, organisiert von ehrenamtlichen Mitarbeitern. Nicht Heide Simonis eröffnet die Sommerakademie, sondern der Kinderbeauftrage des Landes. Und als solcher moniert er die Sprachebene des Programms, die seines Erachtens zu hoch ist. Ästhetische Prozesse, wer soll das bloß verstehen?
Angela Hartig und Klaus-Ove Kahrmann verstehen die Kritik nicht. Sie sehen keinen Widerspruch im hohen Anspruch und der Tatsache, daß auch Jugendliche und Multiplikatoren der Jugendarbeit ohne Kunsterfahrung erfolgreich teilnehmen können. Unterstützt werden sie von namhaften internationalen Künstlern: Andrzej Wajda, polnischer Regisseur und Parlamentsabgeordneter, Dr. Eberhardt Schmitz, Musikhochschule Hamburg, Ole B. Lindquist, Kunstakademie Aarhus (Dänemark), Gunilla Bandolin, Stockholm, Franziska Stubenrauch, Kiel, Wieslaw Karolak, Performance-Künstler und Professor an der Kunstakademie Lodz in Polen sind nur einige von denen, die die Projekte gesichert sehen wollen. Viele von ihnen übernehmen Gruppenleitungen für eine Aufwandsentschädigung von 2.000 Mark. „Ein Hungerlohn“, findet Kahrmann. „Normalerweise bekommt Theaterleiter Jürgen Müller-Othzen, einst Regisseur des Freiraum-Theaters Bremen, für ähnliche Workshops 6.000 Mark pro Woche.
Das Problem, so scheint es, liegt in der Struktur. Wäre das Kultusministerium zuständig für die Finanzierung der Sommerakademie und nicht das Sozialministerium, gäbe es ähnliche Auseinandersetzungen wohl kaum. So jedoch müssen die Initiatoren jedes Jahr aufs neue Betteln gehen, um die 80.000 Mark aufzutreiben.
Ihr Versuch, sich dem Projekt „Ars Baltica“ anzuschließen, scheiterte an deren Widerstand. Das Projekt zum Kulturaustausch mit baltischen Staaten – noch von Björn Engholm ins Leben gerufen – will nichts zu tun haben mit den ehrenamtlichen von der LAG Kunst. Weicht von uns, Pädagogen, ihr paßt nicht in die Hochkultur. Selbst das Gespräch wurde verweigert: kein Interesse. Schließlich braucht man das Geld, um nach Riga zu fahren, das Filmfestival zu organisieren.
Und während die Kulturträger planen, holen die Kunsterzieher die Balten ins Land. Und die bringen frischen Wind an die Ostküste: „Die sind der Medienwelt nicht so verhaftet, und die bringen frischen Wind an die Küste“, schwärmt Kahrmann. Die Balten wiederum staunen über die Methodik, die alle Freiheiten offenläßt. Viele von ihnen kommen von Kunsthochschulen, wo sie verschult und in feste Rahmen gepreßt, klassisch gedrillt werden. Daß man Ideen frei entwickeln kann, ist ihnen so fremd wie offene Teamarbeit. „Wenn die nach Hause gehen, bringen sie neue Herangehensweisen mit.“
Außerdem sind die Russen und Litauer bestens eingearbeitet ins Thema. Denn bevor sie kreativ sein dürfen, müssen sie das Labyrinth der Bürokratie durchlaufen, beim Versuch, das Visum zu bekommen. Und das, obwohl sie offizielle Gäste der schleswig-holsteinischen Landesregierung sind. Olga aus Kaliningrad mußte extra nach Moskau reisen. Dort nahm ihr die russische Mafia erstmal 50 US-Dollar ab für die Erlaubnis, vor der deutschen Botschaft in der Schlange stehen zu dürfen. Als sie endlich zur Sachbearbeiterin vorgedrungen war, stellte sich die Dame stur. Sie bräuchte eine Kopie vom Reisepaß des Veranstaltungsleiters, sonst ginge gar nichts. Verzweifelt rief Olga bei Kahrmann in Deutschland an, der wiederum den deutschen Botschafter in Moskau anklingelte: „Ich habe mit einer Staatsaffäre gedroht, falls das nicht klappt.“ Und plötzlich, wie durch ein Wunder, klappte alles. Die Sachbearbeiterin kam raus aus der Botschaft, damit Olga nicht mehr anzustehen brauchte, und drückte, wenn auch widerwillig, ganz ohne Zusatzzahlungen den Stempel in den Paß, einen Tag vor der Abfahrt.
Glücklich am Hamburger Hauptbahnhof angekommen, trafen die Russen auf das nächste Exemplar deutscher Bürokraten. Der Bahnbeamte wollte nichts von den vorbestellten Karten wissen. Und nachschauen wollte er auch nicht. Morgens um sechs klingelten die Russen Klaus-Ove Kahrmann aus dem Bett, der mit viel Geschrei und wüsten Drohungen den Schalterbeamten zur Raison brachte.
Noch ärgerlicher war das Erlebnis der litauischen Künstlerin Arune Tornau. Obwohl sie von den deutschen Veranstaltern versichert war, wurde sie in der deutschen Botschaft erpreßt, eine weitere Versicherung abzuschließen – so teuer, wie ein Monatsstipendium. „Ein Anruf bei uns hätte genügt“, sagt Angela Hartig. Statt dessen gaben die Botschaftsangestellten Arune die Adresse einer Versicherungsagentur. Sie unterschrieb. Eine weitere Studentin wurde von einem Beamten rüde zur Tür rausgedrängt. „Für die sind wir alle Autodiebe.“
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