■ Der antitotalitäre Konsens kommt nicht an
: Alte Hüte in neuer Lage?

Nun haben jene doch recht behalten, die nach 1989 warnten, den Westdeutschen werde ob der Zumutungen der deutschen Vereinigung noch Hören und Sehen vergehen. Dabei sah es zunächst so aus, als würden die Lasten nur auf die Ostdeutschen zukommen.

Inzwischen hat die Krise längst den Westen erfaßt; sie ist politisch geworden. Die Quittung kommt ausgerechnet von den in Sachen Demokratie unerfahrenen Ossis. Sie protestieren, sie delegieren ihren Unmut an die PDS, die, wie Erhard Eppler treffend formulierte, „ganz anders sein (will) als die SED, aber ... als Nachfolgepartei die Kontinuität wahren“ will (Spiegel 29/1994). Und sie bringt die Volksparteien ins Schwitzen.

Die CDU reagierte auf die Erfolge der PDS wie weiland Adenauers Mannen in den Wahlkämpfen der fünfziger und sechziger Jahre auf die SPD. Da sie in Sachsen-Anhalt nicht die Rolle des Tolerierungspartners für die rot- grüne Minderheitsregierung übernehmen will, schreit sie: Haltet den Dieb! Generalsekretär Hintze greift in dieser Verlegenheit in die Schatztruhe der Vergangenheit – und langt voll daneben. Die christsoziale Maxime: „Volksfront – pfui Teufel!“ mußte er zurücknehmen, weil Verwirrung darüber ausbrach, wer das Volk und wer die Front sei. Nun also wird zum Kampf gegen die „Linksfront“ geblasen. Oder wie wär's mit „Weg mit den roten Socken!“?

Da kann sich die PDS nur freuen. Ihr gut inszeniertes, witzig- freches Image wird dadurch eher noch aufpoliert. Vielleicht werden ihre Strategen demnächst mit dem Spruch kommen: „Lieber rote Socken als schwarze Gesinnung“?

Nein, mit diesen alten rechts- linken Trümpfen ist weder die alte noch die neue Hälfte der Republik zu reizen. Der Kalte Krieg ist nicht wiederzubeleben, die Kämpfe der „politischen Lager“ sind nur mehr blasser Widerschein der Vergangenheit. Deshalb wird auch der Ruf nach dem antitotalitären Konsens nicht ankommen. Das Land braucht Demokratinnen und Demokraten, keine TrägerInnen von Anti-Haltungen. Jenes demokratische Kleid der alten Republik, das hauptsächlich auf dem Konsens des Westens gegen den Osten und auf stabiler wirtschaftlicher Grundlage ruhte, es ist zu eng geworden. Ein neues republikanisches Bürgerbewußtsein muß her. Nur: woher nehmen und nicht stehlen?

Die Demokratie als ein Rahmenwerk, das Freiheiten und Sicherheiten bietet, aber auch neue Unsicherheiten schafft, ist im Osten nur von Teilen der Bevölkerung angenommen worden. Über die Gründe läßt sich streiten. Unbestritten ist, daß nicht nur diejenigen PDS wählen, denen es schlecht geht. Auch Leute, denen es gut geht, verkünden, alles werde immer schlechter. Sie lamentieren stellvertretend und laut für alle, die nur murren. Aber lassen wir jene Alten, Unbelehrbaren beiseite, die erwiesenermaßen das Fundament der PDS bilden. Deren „Kampfstrategie“ hat schon einmal zu ungeahnten Erfolgen geführt. In der Weimarer Republik denunzierten viele von ihnen die (zugegeben schwache und beschädigte) Republik als Strafe für den verlorenen Weltkrieg – oder für die gescheiterte Revolution. Sie ignorierten die Chance, die, wie gering auch immer, genutzt sein wollte.

Viel entscheidender sind die anderen Enttäuschten, die nicht wählen gehen. Viel wichtiger ist, daß die PDS von Jugendlichen gewählt wird (und von vielen jungen Frauen). Denen mit der Keule des antitotalitären Konsenses zu winken (oder zu drohen), ist deshalb absurd, weil sie sich ja gerade gegen die Totalität der neuen politischen und wirtschaftlichen Ordnung wehren.

Die westdeutsche Demokratie hat sich ihnen bestenfalls von der chaotischen Seite (als Gewirr ungewohnter bürokratischer Verfahrensweisen, als Zumutungen an die Selbstverantwortlichkeit, als ungewohnte Individualisierung der Lebensstile) präsentiert, schlimmstenfalls von der bösartigen Seite (Restitutionsansprüche und Arroganz der Westdeutschen, Arbeitsplatzverlust, Verlust von Lebensorientierungen und Sicherheit). Last not least: Wer jahrzehntelang mit der Propaganda gelebt hat, daß westliche Demokratie gleichbedeutend mit Inhumanität sei; wem seit Kindertagen eingehämmert wurde, daß Demokratie Proto- oder Kryptofaschismus sei; wer verinnerlicht hat, daß Gleichheit über Freiheit stehe, der (oder die) hat kein sehr großes Toleranzpolster. Die unzufriedenen Ostdeutschen wissen zudem, daß man im Westen protestieren muß, wenn man gehört werden will.

Unabhängig davon haben die Ossis längst begonnen, der selbstzufriedenen westdeutschen Demokratie Sinnfragen zu stellen, die uns lästig sind: Wozu das Ganze eigentlich, fragen sie, wenn doch die Hauptsache, die wirtschaftliche Sicherheit und die allgemeine Behütetheit, nicht mehr oder nicht dauerhaft gewährleistet sind? In einer solchen Situation die Deutschen zum antitotalitären Konsens gegen die „roten Socken“ aufzurufen, zeugt von bescheidener Geisteshaltung. Der CDU/CSU wird diese Parole noch im Halse stecken bleiben.

Bei den Westdeutschen macht dieser alte Schlachtruf ohnehin keinen Sinn. Die PDS bleibt hier eine marginale Größe, selbst wenn es ihr gelingen sollte, in den Bundestag einzuziehen. Nein, es geht gegenwärtig nicht um Gesinnungen oder Haltungen. Das Problem ist handfester. Es geht darum, politische Konsense wie auch Streitkulturen zu schaffen, die in Krisenzeiten tragen. Es gilt nicht nur, das zu bewahren, was wir haben, also: die Institutionen zu schützen, das Funktionieren der demokratischen Verfahren zu gewährleisten, die „Feinde“ abzuwehren. Diese Demokratie als demokratische Republik muß erneut angenommen werden, in beiden Teilen Deutschlands. Nur dann wird man im Osten allmählich aufhören zu raunen: lieber rote als stinkende Socken.

Dies muß auch die SPD wissen. Ihre seit der Weimarer Republik nicht geheilte traumatische Angst vor der Unterwanderung und Funktionalisierung durch die Linksextremen hindert sie daran, die überalterte Parolenpolitik der CDU zu ihrem Vorteil auszunutzen. Natürlich ist es schmerzhaft, daß die PDS sich als „fortschrittlichere“ Sozialdemokratie aufspielt. Aber deshalb den Kampf gegen den Linksextremismus in den Vordergrund zu stellen, wie Erhard Eppler im Spiegel, ist ebenso Politik der historischen Zitate wie die Parolen der CDU. Die SPD (das gilt auch für andere demokratische Parteien) braucht im Osten junge WählerInnen. Das sollte sie von der PDS abkupfern. Und sie sollte sich von der lauen Hoffnung befreien, die PDS von der Demokratie überzeugen zu können. Antonia Grunenberg

apl. Prof. für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen, Publizistin und Autorin des Buches „Antifaschismus – ein deutscher Mythos“ (1993)