Von den Fersen bis zu den Fingerspitzen

■ Capoeira-Seminar in Hamburg: Diskussion um weiße Westeuropäer und Sklavenbefreiung

Zwei Hände auf dem Boden, ein Bein in der Luft. „Zieh die Knie an, sonst läuft dir deine Gegnerin in den Bauch“, ruft der Trainer. Lautlose Schritte, plötzlich ein Sprung, dann ein Tritt, doch die Gegnerin hat es geahnt. Einmal geduckt und in der Hocke gedreht: Ihr Bein kommt von hinten angeschossen.

Daß Capoeira wie ein Tanz wirkt, ist Tarnung: SklavInnen in Brasilien war es seinerzeit verboten, sich kämpferisch zu üben. Als vor 400 Jahren der Menschenhandel mit afrikanischen Schwarzen begann, wurden viele SklavInnen auf die Pflanzungen der portugiesischen Kolonialherren verschleppt. Um sich für eine Flucht zu stärken und untereinander zu verständigen, tanzten die ZwangsarbeiterInnen am Abend. Mit der Zeit entwickelte sich ein Ritus mit festen Regeln und speziellen Liedern: die Capoeira.

„Für mich ist Capoeira zur Lebensphilosophie geworden“, erzählt eine Capoeirista auf dem Seminar, welches vergangene Woche in Hamburg stattfand. „Capoeira ist so vielfältig – Tanz, Kampf, Musik und Gesang“, schwärmt eine andere. Inmitten klatschender und singender Capoeiristas – die Kreisformation wird „roda“ genannt – stehen sich zwei KämpferInnen gegenüber und starten Angriffe, die ihr Ziel knapp verfehlen. Die GegnerIn soll merken, wo sich ihre Schwachstellen befinden. Die Kleider sind weiß und nach dem Kampf soll nicht ein Schmutzfleck zu sehen sein – auch dies verlangt der Ehrenkodex. Nur Hände, Füße und der Kopf dürfen den Boden berühren. Früher wurde, wenn ein Aufseher nahte, der Rythmus verändert, damit alles wie ein Tanz aussah. Heute ist Capoeira nicht mehr so schlecht beleumundet wie noch vor Jahrzehnten, als sich „Bandidos“ auf der Straße in dem alten Kampf übten und die Capoeira bis in die 1920er verboten war.

Viele SchullehrerInnen sehen es als ihre Aufgabe, Jugendlichen aus den Slums der großen brasilianischen Städte Capoeira nahezubringen. Paulo Siqueira aus Rio de Janeiro war einer der ersten, der Kurse in Europa anbot. Und auch nach zehn Jahren lädt er bekannte Capoeiristas aus seiner Heimat, den USA und Westeuropa nach Hamburg ein. Das wichtigste Ereignis ist das von ihm und seinen SchülerInnen alljährlich vorbereitete Sommer-Treffen in Hamburg.

Die brasilianischen LehrerInnen diskutierten dieses Mal, ob Capoeira schon in Afrika oder erst in Brasilien entstand und ob es überhaupt sinnvoll ist, weißen Westeuropäern beizubringen, was einst der Befreiung diente. Im letzten Jahr wurde hitzig über machismo und die Rolle der Frau debattiert: Ist es richtig, Capoeirakurse nur für Frauen anzubieten?

Die erste Meisterin der Capoeira, Edna Lima, war extra zur (Er)klärung dieses Disputs, der in Brasilien schon weiter fortgeschritten ist, nach Hamburg-Altona gekommen. Optimistinnen würden sagen, daß die femistische Diskussion auf dem letzten Hamburger Treffen ein Erfolg war. Viele kämpferische Frauen waren letzte Woche in Hamburg - ihnen war anzusehen, daß Capoeira sie von den Fersen bis zu den Fingerspitzen bewegt.

Gudrun Fischer