Amoklauf der Algen

Harmlose Algen sondern tödliche Stoffe ab / Die Ursache ist der selektive Mangel an Nährstoffen  ■ Von Andreas Weber

Wer jetzt einen der ersten heißen Sommertage am Strand der Nord- oder Ostsee verbracht hat, begreift, was eine Algenblüte ist: Träge wie Ölfarbe schwappt das Wasser ans Ufer. Keine glitzernden Lichtreflexe mehr: mattgrüne Schlieren ziehen sich durch die trübe Flüssigkeit. Im Meer ist die Individuendichte einer Laborkultur erreicht. Bis zu 50 Millionen Algenzellen pro Liter sind es, die das Seewasser verdunkeln.

Algenblüten sind zu einem weltweiten Massenphänomen geworden. Sie gehören zum Meer wie der zähe Ölteer, der unter den Sohlen kleben bleibt: lästig, aber scheinbar ungefährlich. Warnungen von Wissenschaftlern verhallen ungehört, wie jüngst die Befürchtung norwegischer und dänischer Forscher: „Jederzeit kann es zu einer Algenpest kommen, die noch die Katastrophe von 1988 übertrifft.“

Denn manchmal macht die Vermehrungswut der Einzeller das Wasser nicht nur trübe, sondern tödlich. Solche giftigen Blüten, die kaum ein tierisches Lebewesen im Wasser übersteht, traten bisher allerdings unregelmäßig und kaum vorhersagbar auf. Das bisher größte Sterben in unseren Breiten fand im Sommer 1988 im Skagerrak statt: Nach der Massenvermehrung von Chrysochromulina polylepis trieben die Fische tonnenweise kieloben.

Bisher wußten die Wissenschaftler nicht, was sonst völlig harmlose Algen dazu bringt, plötzlich tödliches Gift abzusondern. Inzwischen zeichnet sich jedoch ab, daß nicht wie bei einer gewöhnlichen Algenpest die Überdüngung mit Nährstoffen allein schuld am Amoklauf der Einzeller ist. Paradoxerweise kommt es dazu erst, wenn bestimmte Mineralien im Überschuß vorhanden sind, andere jedoch fast völlig fehlen. In diesem Licht können sich auch halbherzige Umweltkonzepte, die selektiv den Überschuß eines Nährstoffes verringern, als ein weiterer Genickschlag für das ökologische Gleichgewicht erweisen.

Mäßige Planktonblüten sind ein ganz normales Phänomen in den Jahreszeiten der See. Wie an Land so gibt es auch im Meer einen Frühling. Nachdem Herbst- und Winterstürme die Wasserschichten gut durchmischt haben, ist die sonnendurchflutete Oberfläche reich an Nährstoffen, die für ein üppiges Pflanzenwachstum wichtig sind: vor allem Nitrat, Phosphat und, für die Kieselalgen, Silikat. Sobald die Tage lang genug sind, beginnt die Vermehrung der einzelligen Planktonalgen. Der Bestand steigt in kurzer Zeit rasch an. Im natürlichen Fall kommt es jedoch selten zu einer alles erstickenden Massenblüte, da irgendwann die Nährstoffe an der Oberfläche aufgebraucht sind. Im offenen Meer ist vor allem der Nitratvorrat limitiert. Außerdem weiden winzige planktische Äser, zumeist kleine Krebse, die Algen ab. Sie tragen dazu bei, daß sich ein Gleichgewicht im Meer einstellt.

Erst die unbegrenzte Nährstoffzufuhr durch gnadenlose Überdüngung des Meeres hat unkontrollierbare Massenblüten möglich gemacht. Nitrate werden vor allem durch die Flüsse eingetragen. Kunstdünger, besonders aber auch Gülle aus der intensiven Landwirtschaft sorgen im Meer dafür, daß ständig Frühling herrscht. Doch auch die Luft trägt inzwischen entscheidend zum marinen Schlaraffenland bei: Die Hälfte der pro Jahr durch menschliche Einflüsse allein in die Nordsee rieselnden 800.000 Tonnen Nitrat kommt aus Auspuffrohren und Schornsteinen. Phosphate stammen ebenfalls aus der Agrarindustrie, außerdem aber vor allem aus Waschmitteln.

Die verheerende Giftblüte Ende der Achtziger im Skagerrak jedoch trat höchstwahrscheinlich auf, weil zu wenig Phosphat im Wasser war. „Wir nehmen an“, vermutet die schwedische Forscherin Edna Graneli, die sich intensiv mit der Algenblüte vor vier Jahren befaßt hat, „daß die Phosphatlimitierung des Algenwachstums die plötzliche Giftigkeit provoziert hat.“ Denn der Nährstoff Phosphat war durch das vorhergehende Wachstum aufgebraucht, Stickstoffverbindungen standen aber weiterhin massenhaft zu Verfügung. Vermutlich brachte das existenzbedrohend schroffe Verhältnis zwischen Nitrat und Phosphat den Einzeller Chrysochromulina dann dazu, giftig zu werden. Aufgrund von Laborversuchen steht inzwischen fest, daß auch andere Phytoflagellaten verschiedene Giftstoffe freisetzen, wenn zuviel Stickstoff, aber zu wenig Phosphat vorhanden ist. Der biologische Sinn der „physiologischen Waffe“, so Graneli, könnte darin liegen, unter den ungewohnten Nährstoffverhältnissen einen Überlebensvorteil gegenüber anderen Algenarten herauszuschlagen. Doch die Chemie, die zuerst nur zur Abschreckung des grasenden Planktons dient, entwickelt sich bei zunehmender Populationsdichte von Chrysochromulina und daher immer bedrohlicherem Phosphatmangel zu einem chemischen Kampfstoff, der alles übrige Leben im Wasser vernichtet.

Doch nicht nur Chrysochromulina und ihre Verwandten laufen Amok. An den amerikanischen Küsten sind es bisher als völlig ungiftig bekannte Kieselalgen, die plötzlich mit der chemischen Keule um sich schlagen. Alljährlich machen Todesfälle Schlagzeilen, die sich nach dem Genuß von Muscheln ereignen, welche Algen mit dem Toxin Domoinsäure aus dem Wasser gefiltert haben. Schwärme von Seevögeln, aber auch manche Restaurantbesucher zählen zu den Opfern. Für diese Giftunfälle ist anscheinend ein Mangel an Silikat verantwortlich, dem Hauptbestandteil der Kieselalgenschalen, die stets einem außerordentlich hohen Nitratanteil gegenübersteht.

„Die Nährstoffkreisläufe im Meer sind mittlerweile völlig durcheinander“, resümiert der Hamburger Meeresforscher Justus van Beusekom von der Biologischen Anstalt Helgoland in Hamburg. Dabei sind manche der Veränderungen im Mineralstoffhaushalt sogar gut gemeint. Um die Überdüngung der Gewässer zu verringern, verbannte man Ende der achtziger Jahre die Phosphate aus den Waschmitteln. Doch statt, wie angenommen, die schädlichen Auswirkungen der Überdüngung zu verringern, sorgt der fehlende Phosphor in Verbindung mit hohen Nitratfrachten möglicherweise für die mörderische Verschärfung des Problems. „Da es viel leichter ist, die Phosphatbelastung zu verringern als die von Nitrat, könnte die Vorgabe der Europäischen Union, den Nährstoffeintrag bis 1995 um die Hälfte zu reduzieren, unerwartet negative Folgen haben“, so der Wissenschaftler.

Doch noch andere Eingriffe könnten unangenehme Auswirkungen zeigen. Immer mehr Staustufen in den Flüssen – wie jetzt auch für die Elbe geplant – bewirken, daß auch immer mehr Silikat bereits im Fluß verbraucht wird und schon dort sedimentiert. In den großen Stauseen gedeihen die Algen. Beim Absterben nehmen sie den Nährstoff mit in die Tiefe. Dieser erreicht dann erst gar nicht mehr die See. Was dort aus derartigen Hungerbedingungen dann folgt, zeigen die Giftkatastrophen an der amerikanischen Küste. In Europa ist es die Adria, welche schon jetzt in jedem Frühsommer mit üppigen Kieselalgenvorkommen aufwartet. Noch sind diese nicht giftig. Doch mit zunehmender Silikatknappheit könnten auch hier Entwicklungen mit ungeahnten Folgen blühen.