■ Der ruandische Exodus könnte der Beginn einer Lösung sein, denn es gibt (jenseits Gomas) genug Platz in Zaire
: Bürger ohne Grenzen

Während die Hilfsorganisationen versuchen, Lebensmittel und Medizin heranzukarren, um den Menschen zu helfen, konzentrieren sich fast alle Medienberichte auf die Masse von Menschen, die sich in Zaire befinden. Was allerdings nicht berichtet wird, ist, daß Zaire ein sehr großes Land ist, in dem bereits eine große Hutu-Gemeinde in der Nähe der ruandischen Grenze lebt. Tatsächlich könnte der ruandische Exodus Teil eines Auswegs aus dem endemischen Haß zwischen der Hutu- Mehrheit und der Tutsi-Minderheit sein.

Ruanda ist eines der am dichtest besiedelten Länder der Welt. In dieser bergigen Nation, die hochgradig abhängig ist von ausländischer Hilfe, ist agrarische Produktion nur sehr begrenzt möglich. Ruander, die nicht in der Landwirtschaft überleben konnten, wurden in die urbanen Zentren verschlagen, etwa in die Hauptstadt Kigali. Dort hofften sie darauf, auch einen kleinen Teil jener Ressourcen abzubekommen, die die herrschende politische Elite kontrollierte. Das ist wohl auch eine Erklärung dafür, daß die Hutu-Extremisten das Arusha-Abkommen – welches die Einbeziehung der RPF in die Regierung vorsah –, ablehnten. Dann hätte man doch die eh schon karge Beute noch mehr teilen müssen.

Es ist viel wahr an der Behauptung, daß die Extremisten in der Hutu-Elite die Armen des Landes zu ihren Zwecken benutzten; auch stimmt, daß die Hutu wußten oder ahnten, daß, kämen die Tutsi zurück an die Macht, man sie als Leibeigene behandeln würde. Weil die Mittel des Landes so beschränkt sind, rückte diese Angst mehr und mehr in den Mittelpunkt.

Die bewaffneten Milizen, die die meisten der bestialischen Massaker verübten, erwarteten finanzielle Belohnungen. Man hatte diese jungen Männer aus der Masse der Arbeitslosen herausgeholt. Sie orientierten sich am Lebensstil der Elite und wollten auch ihre italienischen Jacketts tragen oder die deutschen Autos fahren. Solange man nicht diese Zustände thematisiert, so lange bleibt das Gerede von Demokratie und dem Aufbau glaubwürdiger Institutionen nur bedeutungsloses, leeres Gerede.

Einige Zeit bevor die Massaker begannen, erweiterte die englische Hilfsorganisation „Oxfam“ ihren üblichen Aufgabenradius und begann, Seminare über Demokratie in Ruanda abzuhalten. Offensichtlich hatten sie nicht viel Erfolg. Wenn man sechs Millionen Menschen hat, die unter ständiger Tuchfühlung in einer völlig verarmten Gesellschaft leben und dies auch noch mit einer derart blutrünstigen Geschichte im Nacken, braucht es nicht viel, und sie gehen sich gegenseitig an die Gurgel. Auch Zaire erlebte vor kurzem ethnische Spannungen. Aber weil das Land so großflächig ist, wurde aus all dem kein Krieg.

Man sollte die ruandischen Menschen darin unterstützen, in solche Regionen zu gehen, wo sie bebaubares Land finden. Die Million Hutu-Flüchtlinge, die nach Zaire flohen und dort in der Grenzstadt Goma vor sich hin vegetieren, sollten auch vom UNHCR aufgefordert werden, ins Landesinnere zu gehen. Dort finden sie fruchtbares Land. Jeder, der einmal über Zaire flog, konnte sehen, daß es genug unbesiedeltes und fruchtbares Gelände gibt. Gleichzeitig sollten auch andere Nachbarländer, sei es Tansania oder Uganda, darin unterstützt werden, so viele Flüchtlinge wie möglich aufzunehmen. Diese Flüchtlinge können nicht in den Lagern bleiben, weil die Hutu-Extremisten unter ihnen erneut die Feuer des Hasses zu entzünden trachten.

Einige mögen jetzt sagen, daß sich die Menschen in Zaire, Tansania oder Uganda von den ruandischen Flüchtlingen bedrängt oder überrannt fühlen könnten. Vor hundert Jahren aber, als das Innere Zentralafrikas noch nicht vollständig unter europäischer Kontrolle stand, hätte eine solche Feststellung überhaupt keinen Sinn gemacht. Denn damals konnten sich alle Afrikaner auf der Suche nach besserem Boden und Weideland frei bewegen.

Die Tutsi selbst kamen im 16. Jahrhundert vom Horn von Afrika. Der Kolonialismus erwartete dann plötzlich von allen Afrikanern eine Loyalität gegenüber Grenzen, die sehr wenig mit den Realitäten der Menschen zu tun hatten. Zaire etwa, von der Größe ganz Westeuropas, hat Gegenden, in denen mühelos mehr als eine Million ruandische Flüchtlinge aufgenommen und ernährt werden können.

Angesichts der immensen Bösartigkeit und Brutalität, mit der die Hutu-Extremisten auf ihre Tutsi- Nachbarn losgingen, erscheint es im nachhinein rätselhaft, wie die beiden Ethnien überhaupt haben koexistieren können. Die Saat des Hasses sitzt zu tief, als daß die Rhetorik einer nationalen Versöhnung, wie sie die RPF-Sieger jetzt verkünden, leicht greifen könnte.

All jene Hutu, die mit der Regierungsarmee nach Zaire flohen, haben geschworen, zurückzukehren und das neue Regime zu stürzen: So scheint die Spirale der Gewalt sich endlos fortzusetzen. Wenn aber genügend Hutu den Anreiz hätten, in Zaire oder anderen Nachbarländern zu bleiben, dann wäre es auch für die internationale Gemeinschaft leichter, bei der Suche nach einer Lösung vermittelnd zur Seite zu stehen.

Es ist Zeit, daß die Afrikaner die kolonialen Grenzen verwerfen und dorthin gehen, wo sie ein besseres Leben erwartet. 1975, als der angolanische Bürgerkrieg ausbrach, flohen Tausende Angolaner in Nachbarländer. Auch ich war unter den vielen, die nach Sambia wanderten. Dort verbrachte ich meine Kindheit. Wir wurden vom UNHCR in das Camp Meheba im Nordwesten Sambias geschickt. Dort wurde jeder Familie ein Stück Land und Werkzeug zugewiesen.

Innerhalb weniger Jahre hatten die ehemaligen Flüchtlinge nicht nur fertiggebracht, sich selbst zu ernähren, sie belieferten sogar die Region mit Agrarprodukten. Heute leben die Angolaner in Sambia schon in der zweiten Genration, aber sie haben nicht ihre Identität verloren. Und die sambische Bevölkerung lernte sie als Teil der Gesellschaft zu akzeptieren.

In Sambia gibt es auch eine große simbabwische Gemeinschaft, die zur Zeit des Unabhängigkeitskampfes ihres Landes geflohen war. Als Mechaniker und Schreiner gelang es ihnen, aus Schrott Haushaltsgeräte zu basteln. Auch sie haben nie ihre Identität verloren und sich dennoch in die zairische Gesellschaft eingefügt. Nachdem Simbabwe unabhängig wurde, wollten viele wegen ihrer Geschäfte nicht zurück.

Es gibt einfach keinen Grund, warum sich dieses Muster nicht im Falle der Millionen Ruander wiederholen kann. Wo sie doch ihr eigenes Land alles andere als gastfreundlich ihnen gegenüber erleben mußten. Sousa Jamba

der Autor ist angolanischer Erzähler;

aus: The Guardian vom 22.7.94;

Übersetzung: AS