■ Kritische Anmerkungen zur SPD nach Magdeburg
: So denkt Otto-Ost

Warum entschieden sich zu viele Protestwähler in Sachsen- Anhalt für die PDS? Auf die Frage antworteten am Abend des Wahlsonntags Reinhard Höppner, Günter Verheugen und Marianne Birthler, Politiker der beiden Oppositionsparteien, die, im Gegensatz zur PDS, unverkennbar weniger Stimmen als erhofft bekommen hatten. Einhellig erklärten sie: Schuld hat Bundeskanzler Kohl mit seiner Politik.

Natürlich wird sich auch Kohl gefragt haben, warum nicht mehr Leute ihre Stimme der CDU gegeben haben. Doch was in den Augen der Wähler in den neuen Bundesländern dieser oder jener Partei des linken Spektrums Anziehungskraft gibt, darüber sollte sich in erster Linie die SPD Gedanken machen – ihr entscheidender Gegner ist nämlich nicht die CDU, sondern die PDS. Sei es Brandenburg, Ostberlin oder Mecklenburg-Vorpommern: der SPD-Kandidat gerät in eine mißliche Lage. Wie kann er klarmachen, daß man ihn wählen muß? Weiß doch jeder Wähler, der SPD und PDS zuneigt: Streit hin, Streit her, aber im Wichtigsten sind sich die beiden einig, nämlich: Kohl muß weg.

Doch sieht der oppositionell gesinnte Otto Normalverbraucher- Ost auch in anderen Punkten Übereinstimmung zwischen SPD und PDS: in der grundsätzlichen Kritik an der Privatisierung und der Treuhand sowie an den Alteigentum-Regelungen, in den weitreichenden Forderungen nach Industriepolitik, Arbeitsplatzsicherung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, sozialer Absicherung, nach billigen Wohnungen, Kindergartenplätzen... Nebenbei bemerkt, die Maßstäbe und Methoden, mit deren Hilfe die SPD im Fall ihres Genossen Stolpe die Stasi-Vergangenheit bewältigt, sind schwerlich zu unterscheiden von der Art und Weise, wie die PDS-Genossen das Thema Stasi zur Quantité négligeable zu machen versuchen.

Am folgenreichsten aber erweist sich die Übereinstimmung in der Frage, die jedermann zuerst stellt: Wer ist schuld an den vielen gegenwärtigen Schwierigkeiten? Einhellig erklären beide Parteien immer wieder: die Regierung in Bonn. Ja, denkt der oppositionelle Otto-Ost, so ist es. Oder so ungefähr. Hier tritt ein Absurdum der gegenwärtigen Situation zutage. Angenommen, dieser Otto-Ost war einst SED-treu, so denkt und redet er heute im Grunde sehr ähnlich oder genauso wie früher. Aber gesetzt den Fall, er hat einst die SED-Propaganda ignoriert, ja verachtet, so toleriert oder billigt er heute womöglich, was er früher immer strikt abgelehnt hat: ein aus sozialistischen Fäden gewirktes Feindbild.

Doch damit nicht genug. Wenn die Bonner Regierung an allem schuld ist, heißt das verkürzt auch: der Westen, die Wessis, die Westparteien. Zu denen aber rechnet Otto-Ost die SPD ebenso wie die CDU, doch auf keinen Fall die PDS. Und die weiß die Ost-West- Animositäten zu nutzen.

Hier halten wir ein an einem Punkt, der größte Aufmerksamkeit verdient. In Ost-Ottos Bewußtsein, zumindest aber in seinem Unterbewußtsein, geistern immer noch die simplen Welterklärungen der SED-Propaganda unseligen Angedenkens. Und sie werden neu- oder wiederbelebt, sobald in ihre Raster etwas fällt, was da hineinpaßt oder auch nur hineinzupassen scheint. Im übrigen ist er geübt, Passendes allenthalben zu finden. Täglich steht's in der Zeitung: Otto Normalverbraucher-Ost liest dieselbe, die er schon in der DDR gelesen hat. Zwar hat sie nunmehr neue, westliche Eigentümer und ist auch ein bißchen aufgepeppt, gleichwohl sind die meisten Journalisten die alten. Selbst die jungen sind quasi die alten, auch sie haben noch im Roten Kloster zu Leipzig, der Fakultät für Journalistik an der Karl-Marx- Universität, Politik zu buchstabieren gelernt. DDR-Mief und SED- Enge sind aus ihren Köpfen mehr oder weniger verschwunden, die eingeübten und tiefverwurzelten Denkmuster nicht, zumal sie doch immer als links bezeichnet und empfunden wurden, und wer hätte etwas gegen linkes Denken?

Wiederum empfiehlt sich ein Blick auf die Befindlichkeit von Otto-Ost. Ein 30-, 50- oder 70jähriger, der sein ganzes Leben unter den martialisch-autoritären Verhältnissen einer Diktatur zugebracht hat, ist über den lautstarken und nicht immer fairen politischen Diskurs in der parlamentarischen Demokratie oft genug ungehalten. Nein, denkt er, die reden doch nur, die tun doch nichts! Ost-Otto ist so gut wie nie zufrieden mit der Politik, den Politikern, den Parteien, den Parlamenten, und schließlich verdrießt ihn die ganze schrille unübersichtliche und, wie ihm scheint, ineffektive, mitunter beinahe handlungsunfähige parlamentarische Demokratie des Westens. Was gemeinhin als Politikverdrossenheit bezeichnet wird, ist bei ihm viel schlimmer – es ist Mißbehagen an der westlichen Demokratie, ja, womöglich längst noch Ärgeres, nämlich Ablehnung derselben. Sein Unmut richtet sich gegen die derzeit in Bonn Regierenden, aber in gewissem Maße fast immer auch gegen die große Oppositionspartei, die SPD, die wie die CDU eine Partei der alten Bundesrepublik ist und insofern auf jeden Fall, anders als die PDS, mit der westlichen Demokratie und ihren Ärgernissen in Zusammenhang gebracht wird. Wenn Otto-Ost bei der nächsten Bundestagswahl seinen Ärger abladen will und eine neue, eine linke Politik wählt, wem gibt er seine Stimme?

Als die SED 1989/90 zur PDS mutierte, anstatt sich aufzulösen und eine Neugründung zu ermöglichen, rechtfertigten Gysi und andere dies vor ihren Genossen: Nur so lasse sich das SED-Vermögen retten und die Stärke der gewachsenen SED-Organisationsstrukturen für die künftige politische Arbeit nutzen. Das offizielle Parteivermögen haben einschlägige Instanzen im Visier. Daß es daneben beträchtliches diskretes Kapital gibt, dürfte seit 1990/91 noch nicht ganz in Vergessenheit geraten sein. Ob aus diesen oder anderen Quellen, jedenfalls hatte die PDS zur Europa-Wahl 20 Millionen DM zur Verfügung, hingegen Bündnis 90/Die Grünen, die diese Zahlen verbittert bekanntgaben, nur 5 Millionen.

An dieser Stelle sei folgendes in Erinnerung gerufen: Nicht die Blockparteien übten faktisch und auch laut Verfassung die Alleinherrschaft in der DDR aus, sondern die SED. Nicht die Blockparteien hielten sich die Stasi als Schild und Schwert, sondern die SED rekrutierte sich das Offizierskorps von Armee und Polizei und hielt sich bewaffnete Kampfgruppen nach dem Muster der SA. Die ehemaligen Mitglieder der vor Jahrzehnten gleichgeschalteten bürgerlichen Parteien in der DDR haben gleichwohl allen Grund, sich nicht nur für ihre korrupten Bonzen zu schämen – wie die Sozialdemokraten allen Grund haben, nicht zu vergessen, daß der Zusammenschluß von KPD und SPD zur SED in der Sowjetischen Besatzungszone nicht nur auf Zwang, sondern auch auf der Zustimmung einiger Sozialdemokraten beruhte. Das müßte die SPD bedenken, wenn sie sich über historisch begründete Skrupel hinwegsetzen möchte. Eckard Thiele

Übersetzer und Essayist; gekürzter Vorabdruck aus Heft 8 der Frankfurter Hefte