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Von Blumenkindern & braven Mädchen

Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main stellt Kinderbücher aus 200 Jahren aus / Belehrende Pädagogik der Aufklärung steckte voller Strafgeschichten, in der Gründerzeit rasselten die Säbel  ■ Von Heide Platen

„Die Maus pfifert“? Jedenfalls tut sie das im Kinder-ABC des „Orbis Pictus“, der „Gemalten Welt“ des Predigers und frühen Reformpädagogen Amos Johann Comenius, zuerst 1658 und dann immer wieder neu aufgelegt. Die Deutsche Bibliothek in Frankfurt am Main zeigt diesen Kinderkosmos zusammen mit rund 200 Kinderbüchern, Zeitschriften und Bilderbögen von 1729 bis 1914. Die Sammlung, die der niedersächsische Superintendent Karl Vordemann um die Jahrhundertwende zusammengetragen hat, ist so recht etwas für Bibliophile. Holzschnitte, feingestichelte, leuchtend handkolorierte Kupferstiche und Radierungen sind anheimelnd und fremd zugleich, scheinen noch Ruhe und Muße jenseits der Bilderflut auszustrahlen.

Kinderbücher in vergangenen Jahrhunderten waren aufwendig gemacht und mußten teuer bezahlt werden. Sie waren ein Privileg der Begüterten. Die Zöglinge der Erziehungsanstalt zu Schnepfenthal brauchten zum Schmökern anno 1787 die Erlaubnis ihres Direktors, Christian Gotthilf Salzmann. Der verlieh ihnen den „Orden des Fleises“ und „mit ihm das Recht zum Bücherlesen“. Die pädagogische Vorauswahl traf er vorsichtshalber selbst, sollten doch „die Mode, das Vorurtheil, der Luxus und das Laster“ gemieden werden. In den belehrenden Geschichten und Bildern der Aufklärung nimmt der Vater oft eine zentrale, gleichsam gottähnliche Rolle ein. Meist lasen die Erwachsenen vor. Eichendorff beklagte bitter, daß ihm sein Erzieher die Bücher verschlossen habe, während Goethe sich mit Vergnügen an seine Kindheitslektüre, den „Orbis Pictus“, erinnert. Die Diskussion um schädliche Folgen des Lesens bereicherte der sächsische Prediger August Friedrich Marx 1804 um eine seltsame Variante. Sein „sterbender Jüngling“ siecht nach der Lektüre „abgeschmackter Rittergeschichten, unmoralischer Romanen und schlüpfriger Gedichte“ dahin: „Wollust kürzte sein Leben“.

Die ersten Aufklärer wandten sich gegen die Stupidität der Schule. Sie wollten die Fähigkeit der Kinder fördern, aus Einsicht und mit Vergnügen zu lernen. Berühmte Künstler zeichneten Bilder, die Geschichten und Texte sind anschaulich. Doch die Pädagogik bricht sich schnell Bahn und will vernunftbegabte kleine Erwachsene erziehen. Und die sollen sich unterordnen. „Die Kinderbücher der Aufklärung“, schreibt Wolfgang Wangerin dazu, „sind voller Warn- und Strafgeschichten. Die Kinder in diesen Büchern kommen rigoros und oft brutal zu Tode.“ „Die heimlichen Sünderinnen“ werden dahingerafft, Onanie endet tödlich. Das böse Beispiel ist der Adel, dessen dekadenten Verlockungen das Bürgerkind, wenn es denn groß werden will, tugenhaft zu widerstehen hat.

Dagegen opponiert die Frühromantik mit der Kreation der unschuldigen Kindheit schon um 1800. Unbotsame Kinder, Spiegelbild der Befindlichkeit der Erwachsenenseele, werden nicht nur nicht bestraft, sondern manchmal gar belohnt. Heile Welt, spielerische Zweckfreiheit projizieren die Autoren, für sie selber sehnsüchtig unerreichbar, in die süßen Kinderaugen. Die kleinen Racker wandeln sich bei diesen ersten Antipädagogen zu Engelchen, Blumenkindern, die unbeschnitten wachsen sollen. Ihnen schreiben die Romantiker die schönsten Phantasiegeschichten, Märchen und Legenden. Die paradiesischen Zustände im Kinderbuch sind von kurzer Dauer. Das bis heute millionenfach gedruckte und ebenso umstrittene „Struwwelpeter“ des Frankfurter Arztes Heinrich Hoffmann ist da nur ein Beispiel. Schon in der biedermeierlichen Familie wird wieder drastisch erzogen. Die Blumenkinder werden zu des Menschen Nutz und Frommen gestutzt und angebunden. Die Verklärung aber bleibt und mutiert in Massenproduktion zum Kitsch.

Die Frühromantik kreiert die unschuldige Kindheit

Die Abenteuerbücher und Bilderbögen aus dem vorigen Jahrhundert sind von befremdlicher Schönheit. Im fernen, bedrohlichen Anderswo ringen riesige Raubkatzen mit wüsten Würgeschlangen, und allerlei Tier frißt allerlei Mensch. Ander- ist auch Wunderland. Da reiten nackte Wilde auf einem Straußenvogel, ein „Hottentot“ präsentiert sich im Tanga. Und Robinson, der Abenteurer aller Kinderträume, wandelt sich in der Illustration eines Jahrhunderts vom wilden Mann im Haarkleid über den selbstvergessenen Eremiten zum handfesten Nachbarsburschen. Frauen kommen in diesem Genre nicht vor.

Dafür gab es eine Fülle von Büchern für „kleine Mädchen und junge Frauenzimmer“. Eines der ältesten, der „Vaeterliche Rath für meine Tochter“ von Joachim Heinrich Campe, verweist die züchtige Jungfrau an die Seite des Mannes, dem sie „auf der sauren Lebensreise“ „den Schweiß von der Wange zu wischen und ihm Heiterkeit, Freude und Muth ins Herz zu lächeln“ habe. Mädchen sollen sanft, sittsam, fleißig sein und sind es auch in den Büchern. „Die kleine Hausfrau“ bleicht die Wäsche und klimpert ganz liebreizend Piano: „Und zu der Saiten hellem Klang, Ertönt ihr lieblicher Gesang“. Das „Illustrierten Spielbuch für Mädchen“ von Marie Leske mahnt 1885 zwischen Engeln, Blumengirlanden und Tauben: „Die Kinder in der Schule klein, Die sollen wie die Blumen sein, Wie Blumen fromm, wie Blumen zart, Von sittiger und stiller Art“. Daß die Autorin des Mädchen-Klassikers „Nesthäkchen“, Else Ury, 1934 Schreibverbot erhielt und im KZ umgebracht wurde, ist neuere Geschichte.

Kinderbuchgeschichte ist von Politik nicht zu trennen, bis hin zu klirrendem Patriotismus der Gründerzeit. Ausstellungsreferent Harro Kieser stellte fest: „Ideologische Kinderbücher ähneln sich bis heute auf verblüffende Weise.“ Aber da hat sich manchmal auch ein Kritiker hinter dem Kinderbuch versteckt. Fedor Alexis Flinzers Militärgeschichte „Wie die Tiere Soldaten werden wollten“ ist 1892 gezeichnete Ironie: dicke Offiziers-Bulldoggen kommandieren Hühner mit Bajonett. Die hintergründigen Verse dazu schrieb der Vater von Joachim Ringelnatz, Georg Bötticher. Da sind die „Bunten Kriegsbilderbogen“ von 1914 aus anderem Schrot und Korn: „Halte aus im Sturmgebraus“. Was die Kinder dieser Zeit denn auch taten. Die Ausstellung „Pfui! Ruft da ein jeder ...“ ist noch bis zum 27. August in der Deutschen Bibliothek zu sehen.

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