Estland fürchtet die Rentner mit den roten Socken

■ Die Russen in Estland waren Thema eines Gipfeltreffens

Moskau (taz) – Die Präsidenten Rußlands und Estlands, Boris Jelzin und Lennart Meri, haben gestern die Verhandlungs-Sackgasse zwischen ihren beiden Staaten vorübergehend in den Kreml verlegt. Meri versicherte bereits auf dem Flughafen, er treffe mit „offener Seele und dem Willen zum Kompromiß“ ein – er verfügt aber der estnischen Verfassung zufolge gar nicht über die Vollmacht, verbindliche internationale Abkommen anzuschließen. So spekuliert die Öffentlichkeit, wie es denn nun tatsächlich um den Hauptgegenstand der Unterredung bestellt sei: dem Abzug der russischen Truppen aus Estland. Den hatte nämlich Präsident Jelzin am Freitag in seiner Eigenschaft als Oberbefahlshaber der russischen Streitkräfte gestoppt. Dennoch meldete die Iswestija gestern, die 144. in Estland stationierte russische Artillerie- Division habe am Vorabend 50 Waggons mit Inventar über die Heimatgrenze geschickt.

Erst am 20. Juli waren die stellvertretenden Außenminister beider Staaten an der Aufgabe einer Einigung gescheitert. Der Konflikt nahm danach internationale Dimensionen an. So beschloß der US-amerikanische Senat, allerdings nicht rechtskräftig, weitere US-Hilfe für Rußland von einem fristgemäßen Abzug der russischen Truppen aus dem Baltikum bis zum 31. August abhängig zu machen. Auch Präsident Clinton mahnte, die Frist einzuhalten, und forderte andererseits die Esten auf, ihre Staatsbürgerschaftsgesetze zu ändern. Zur Zeit sind es über 300.000 Menschen – 28 Prozent der Bevölkerung –, die der estnische Staat rückwirkend zu Ausländern erklärt hat, weil ihre Vorfahren nicht in der zwischen 1920 und 1940 unabhängigen estnischen Republik gelebt haben.

Erstmals auf dem G-7-Gipfel in Neapel hatte Boris Jelzin erklärt: „Solange Estland nicht seine Gesetzgebung in Übereinstimmung mit den internationalen Menschenrechten bringt, haben wir nicht vor, unsere Truppen abzuziehen.“ Tatsächlich wurde das Datum des 31. August dieses Jahres schon 1992 mit russischer Zustimmung als Punkt 15 in der Helsinkier Deklaration der KSZE festgesetzt. Doch wurden die russischen Truppen in keinem Kriege geschlagen und so, meinen die Russen, kann niemand einen Abzug ohne eine Einigung über die Bedingungen erwarten. Diese Bedingungen sind: Soziale Garantien für die im Lande verbleibenden neun bis zwölftausend pensionierten Offiziere, die bisher in Armeegebäuden lebten und von Armeeinstitutionen versorgt wurden.

Gerade in diesen Russenrentnern und ihren Familienangehörigen – schätzungsweise weitere vierzig- bis fünfzigtausend Personen – erblickt Estland eine potentielle fünfte Kolonne, zumal sie nicht alles Tattergreise sind. Die Offiziere der einstigen sowjetischen Armee wurden bisher nach 25 Dienstjahren pensioniert, also mit etwa 45 Jahren. Gerüchten zufolge soll die russische Seite den Esten noch einen Teil ihres bisherigen Armee-Personals aufzuhalsen versuchen, indem sie einige Leute vorzeitig pensionierte. Denn Rußland sieht sich vor großen Schwierigkeiten, was Unterbringung der Repatrianten betrifft. Für die oben zu erwartende Panzerdivision sind zum Beispiel Zelte in der Smolensker Region als Behausung vorgesehen.

Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die russische Regierung letztlich doch bereit ist, sich bei den aktuellen Verhandlungen auf einen Teilaspekt der Frage der Rechte ihrer Landsleute in Estland zu beschränken. Im sonntäglichen Nachrichtenmagazin Itogi hatte Außenminister Andrej Kosyrew erklärt: „Das Problem kann geregelt werden, wenn die minimalen Bedürfnisse der Militärpensionäre befriedigt werden... Sobald die Esten eine Entscheidung fällen, die die Mindestbedingungen berücksichtigt, werden die Truppen abgezogen“. Barbara Kerneck

Nationalist soll Lettland regieren

Riga (AP) – Der lettische Präsident Guntis Ulmanis hat am Montag den rechtskonservativen Politiker Andrejs Krastins von der Lettischen Bewegung für Nationale Unabhängigkeit (LNNK) mit der Regierungsbildung beauftragt. Die bisherige Regierung unter Ministerpräsident Valdis Birkavs war in der vergangenen Woche zerbrochen. Der 43jährige Jurist Krastins gilt als extremer Nationalist. Seine nationalkonservative LNNK hat sich gegen die am Freitag vom Parlament beschlossene Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsrechts ausgesprochen, die es den Angehörigen der starken russischen Minderheit des baltischen Landes erlaubt, die lettische Staatsangehörigkeit anzunehmen.