Reizgas lähmt Polizisten-Prozeß

Angeklagte bestreiten Vorwurf der Körperverletzung im Amt / Opfer identifizieren ihre Peiniger  ■ Von Detlef Krell

Leipzig (taz) – Bedächtig und bis ins Detail schildern Zeugen das Geschehen. Im Gerichtssaal identifizieren mehrere Opfer eindeutig ihre Peiniger. Die Tatverläufe ähneln einander, so daß von Routine gesprochen werden könnte. Doch die Angeklagten bestreiten ebenso bedächtig alle Vorwürfe. Objektive Beweismittel fehlen. Die Anklage klammert sich an die Aussagen der Betroffenen. Daran sägt die Verteidigung mit einer Serie von Beweisanträgen.

Vier Streifenpolizisten aus dem Revier Markkleeberg wird vor dem Leipziger Landgericht der Prozeß gemacht. Die Anklage lautete auf Körperverletzung im Amt, Freiheitsberaubung und Raub. Inzwischen hat das Gericht präzisiert: Der Angeklagte Ronny K. (25) muß sich wegen Aussageerpressung zum Nachteil des Zeugen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung verantworten. Eigentlich sollten in dem am 13. Juli eröffneten Prozeß (die taz berichtete) längst die Urteile gesprochen werden. Je länger sich das Verfahren nun hinzieht, desto deutlicher fallen Parallelen auf zwischen dem erwiesenen Prügelalltag in der Polizeiwache Bernau bei Berlin und den immer noch schleierhaften Vorfällen im Revier Markkleeberg bei Leipzig.

Schlechte Karten haben die Opfer: Der sechzehnjährige René Sch., ein arbeitsloser 7.-Klasse-Absolvent, ist als kleiner Gelegenheitsdieb längst Stammgast auf dem Revier Markkleeberg. Im September erwartet ihn ein einschlägiges Strafverfahren. Für Ronny K. ist René ein alter Bekannter. Er soll sich den Jugendlichen am 29. Juni 1993 vor dem Jugendklub „Salmonelle“ gegriffen und in Handschellen gelegt haben. Dann sei er mit ihm zu einem nahen Tagebaugelände gefahren. Dort habe er zum Schlagstock gegriffen und den Jugendlichen mißhandelt. Zwei Monate später, so die Anklage, haben Ronny K. und die Angeklagten Roger A. (33), Günther U. (40) ihr Opfer just bei einem Einbruch gestellt und mit Fußtritten und Stockschlägen übel zugerichtet. Die Polizisten räumen ein, daß sie René Sch. öfter „kontrollieren“ würden. Doch zur angeblichen Tatzeit seien sie, so Ronny K., „ganz normal“ auf Streife gewesen.

Auch die Vietnamesen vor einem Markkleeberger Supermarkt sind für den Streifendienst ein Dauerthema. „Viele Bürgerbeschwerden“ über „illegalen Zigarettenhandel“ habe es gegeben, erklärt Roger A. Deshalb hätten er und seine Kollegen öfters „Routinekontrollen“ vorgenommen. So auch am Vormittag des 14. August 1993. Der Zeuge Cong berichtet, er habe mit Freunden auf die Öffnung des Marktes gewartet, um einzukaufen. Zwei Polizisten wollten plötzlich die Ausweise sehen. „Wo sind die Zigaretten?“ habe Ronny K. gefragt. Darauf hätten die Polizisten die Pässe eingesammelt und die drei VietnamesInnen gefesselt, ins Auto verfrachtet und in das Tagebaugelände gefahren. Dort sei Cong verprügelt und mit Reizgas besprüht worden.

Der Zeuge Toan, der sich wie die anderen Opfer als Asylsuchender in Deutschland aufhält, bestätigt, daß Ronny K. ihn im vorigen Jahr „grundlos geschlagen“ und um 400 Mark bestohlen habe. K.s Anwalt bohrt: Warum war der Vietnamese aus einem anderen Bundesland nach Leipzig gekommen? Über sein Recht, die Aussage zu verweigern, wenn die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung droht, wird der Zeuge nicht belehrt. Er verstrickt sich mit seinen Antworten; für die Verteidigung die Chance, mit ihrem Beweisantrag vom Verhandlungsthema abzulenken. Nun soll geklärt werden, ob der Zeuge wegen Steuerhehlerei, auf deutsch: Zigarettenhandel, vorbestraft ist und nur zum Handeln nach Leipzig gekommen war.

Für die Verteidigung liegt die „Motivationslage“ der Zeugen klar auf der Hand. René Sch. wollte seine kleinkriminellen „Handlungen relativieren“. Die unter permanentem Verfolgungsdruck stehenden vietnamesischen Schwarzhändler hatten vor, mit einer fingierten Anzeige „aus wirtschaftlichen Gründen“ die Polizisten an weiterer Tätigkeit zu hindern. Nach dieser Interpretation wäre der gesamte Prozeß das Ergebnis eines Komplotts von Kleinganoven gegen die wacker kämpfenden Ordnungshüter. Immerhin liegt Leipzig an der Spitze der Kriminalitätsentwicklung in den neuen Bundesländern. – Zum erstrangigen Beweismittel ist nun das Reizgassprühgerät RGS 1 des auf Probe verbeamteten Streifenpolizisten Ronny K. aufgestiegen. Ein als Zeuge geladener Polizeibeamter brachte es aus dem Panzerschrank mit. Zugang zum Schrank habe „nur der Innendienstverantwortliche“ gehabt. 15 Gramm Reizgas fehlen in der Patrone. Der Beamte hat dafür eine Erklärung: „Als die Polizei des Freistaates mit dem Gerät ausgerüstet wurde, hat jeder Polizist mal zur Probe auf den Knopf gedrückt.“ Die Ronny K. zur Last gelegten Reizgasattacken gegen die VietnamesInnen hätten sicherlich mehr als nur 15 Gramm freigesetzt. Nun soll der Gasverbrauch in einer kriminaltechnischen Untersuchung geprüft werden. Offen bleibt die Frage, warum das nicht längst geschehen ist und wie viele der an jeder Straßenecke erhältlichen Fläschchen Ronny K. für seinen Kleinkrieg wider den Zigarettenhandel bei sich hatte.