Nicht immer, aber immer öfter

■ Im Osten nimmt die Verschuldung explosionsartig zu / Zur Schuldnerberatung gehen viele erst, wenn der Gerichtsvollzieher kommt oder die Wohnung schon so gut wie weg ist

Nicht immer, aber immer öfter klopft der Mann vom Gericht in Berlin an die Tür: 188.000 BerlinerInnen bekamen zwischen Juli 1993 und Mai 1994 vermutlich in jedem einzelnen Fall unliebsamen Besuch von einem Gerichtsvollzieher auf der Suche nach pfändbaren Gegenständen – das waren 23.000 Besuche mehr als im Vorjahr. In einigen Ostbezirken wie Mitte, Friedrichshain oder Lichtenberg ist die Zahl der Zwangsvollstreckungen innerhalb eines Jahres um bis zu 180 Prozent gestiegen.

„Damit ist der Ostteil jetzt auf dem gleichen Stand wie der Westteil“, erklärte Justizsprecher Frank Thiel der taz. Erstaunlich sei allerdings die Explosionsartigkeit der Entwicklung. Die meist unmittelbar nach der Wende gemachten Schuldenberge brechen komprimiert über den Köpfen der Menschen zusammen. Bei den Gerichten stehen die Gläubiger Schlange und beantragen Mahnbescheide. Zu verführerisch schien nach dem Mauerfall die Möglichkeit des schnellen Kaufs auf Pump. „Gegen den Begriff Kaufrausch wehre ich mich immer ein bißchen“ erklärt ein Mitarbeiter der Caritas- Schuldnerberatung in Mitte. „Die Risiken waren nach der Währungsunion nicht absehbar.“ Auch nicht absehbar war die explosionsartige Arbeitslosigkeit, die immer mehr Leute in die Zahlungsunfähigkeit treibt. So vergaben die Banken unmittelbar nach der Wende bereitwillig Dispo- und sonstige Kredite an die neue konsumfreudige Kundschaft, Autohäuser verkauften die begehrten Objekte großzügig auf Raten etc. Sie alle wußten ohnehin schon damals, daß verschuldete Kundschaft viel Geld bringt. Hinzu kam für die Bürger die Verführung der bunten Bilder: Jeder zweite, der heute zur Schuldnerberatung kommt, hat Schulden bei Versandhäusern.

Sieben Gläubiger wollen durchschnittlich von jedem, der die Schuldnerberatung Dilab in Friedrichshain aufsucht, Geld sehen. Die durchschnittliche Schuldenhöhe ist innerhalb eines Jahres von etwa 17.000 auf über 20.000 Mark gestiegen. Neben Versandhäusern und Banken warten auch Gläubiger auf ihr Geld, deren Wohlgesonnenheit existenziell ist: Wohnungsbaugesellschaften und die Bewag. Bei der WBF in Friedrichshain sind zwischen sieben- und zehntausend von insgesamt 54.000 Mietern mietsäumig.

„Oft kommen die Leute erst zu uns, wenn es wirklich brennt“, erklärte Bettina Sawall von der Dilab. „Da droht die Wohnungs- und die Kontokündigung.“ In den Beratungsstellen wird dann ein Haushaltsplan für die Verschuldeten erstellt. Oft stehen auch Verhandlungen mit Gläubigern oder Gespräche mit Gerichtsvollziehern an. Die meiste Zeit nimmt jedoch das Schuldensortieren in Anspruch. „Viele kommen mit Plastiktüten voller ungeöffneter Briefe“, erzählt Gärtner. „Wir versuchen, die Leute dazu zu bringen, den Kopf aus dem Sand zu ziehen.“

Nach Ansicht des Arbeitskreises Neue Armut ist das Ende der Schuldenlawine noch nicht erreicht. „So langsam dreht sich die Geldschöpfungsspirale dem Ende zu.“ Für viele seien die klassischen Umschuldungsmöglichkeiten erschöpft. Was bleibt und wer gerade in der Not gerne hilft, sind kriminelle Kreditvermittler. Boulevardmagazine sind voll von Angeboten, die diskret, schnell und ohne Unterschrift des Ehepartners Bargeld versprechen. Derartige Kredite sind bestenfalls teuer, oft aber ein unerfüllter Traum: Immer mehr Scheinfirmen kassieren happige (und im übrigen verbraucherkreditgesetzwidrige) Vorausgebühren und werden nicht mehr gesehen.

Um Schuldner, die aus oben genannten Gründen oft postalisch nicht mehr greifbar sind und den Weg zur Schuldnerberatung scheuen, doch frühzeitig zu erreichen, hat Berlins größte Wohnungsbaugesellschadft GSW jetzt eine eigene Mietschuldnerberatung eingerichtet und geht auf mietsäumige Kunden zu. Denn oft geht es nicht nur darum, daß sie Geld schulden, sondern auch ihre rechtmäßigen Ansprüche nicht wahrnehmen – auf Wohn- und Kindergeld sowie Sozialhilfe. So hat nach Angaben der Beratungsstellen im Ostteil jeder zweite, der kommt, Anspruch auf Sozialhilfe und nimmt ihn nicht wahr.

Zum Schluß noch ein schwacher Trost aus der Schuldnerberatung Mitte, für alle, bei denen es unwirsch an die Tür klopft: „Der Gerichtsvollzieher kommt. Aber das macht nichts. Der geht auch wieder.“ Denn oft findet er nichts Pfändbares. Die Preise für gebrauchte Gegenstände sind rettungslos im Keller. Gefährdet ist meist nur das Auto, und das ist sicher, wenn es als Transportmittel zur Arbeit benötigt wird. Jeannette Goddar