Hoffen und Warten im Exil

Clinton hat die Erwartungen der haitianischen Exilgemeinde auf eine baldige Rückkehr des gestürzten Präsidenten Aristide enttäuscht  ■ Von Andrea Böhm

Florence Bonhomme- Comeau heißt nicht nur so – sie ist auch ein guter Mensch. Zumindest für ihre haitianischen Landsleute beiderseits der Eastern Parkway in Brooklyn, New York. Probleme mit dem Vermieter? Geh zu Florence. Ärger mit der Steuer? Geh zu Florence. Schwierigkeiten mit dem Ehemann, der Einwanderungsbehörde oder dem Exildasein? Florence wird es richten. Oder in ihrem Übersetzungsbüro an der Eastern Parkway eine hilfreiche Telefonnummer herauskramen. Oder das Problem am nächsten Sonntag in ihrer Radio-Talkshow „Pawol Fanm“, das „Wort der Frau“, besprechen. Die Show war anfangs so manchen männlichen Landsleuten ein Dorn im Auge. Eine Frauensendung im Radio erschien ihnen als gefährliches Anzeichen der Amerikanisierung – und als Bedrohung des häuslichen Friedens. „Wenn meine Frau sich scheiden läßt, geht's dir an den Kragen“, drohten einige anonym am Telefon. Florence quittiert das rückblickend mit einem unnachahmlichen Augenaufschlag, der eher Indignation über pubertäres Benehmen als Empörung oder gar Angst zum Ausdruck bringt. „Männer“, sagt sie mit ihrer sonoren Stimme, „gehören mittlerweile ebenso zu meinen Hörern wie Frauen.“

Florence Bonhomme Comeau ist 1974, gerade 19jährig, mit ihren Eltern aus Haiti geflohen. Nach einer ersten Station in Montreal lebt sie seit 1979 in New York, „aber nur physisch. Mit dem Geist und dem Herzen bin ich in Haiti.“ Wer durch die Exilgemeinden in Miami, New York, Boston und Montreal zieht, bekommt solche Äußerungen immer wieder zu hören – egal, ob es sich um Flüchtlinge handelt, die gerade erst durch das Nadelöhr der amerikanischen Asylbehörden geschlüpft sind, oder um Exilanten, die schon seit 30 Jahren hier leben. Die USA sind für sie kein melting pot und schon gar keine neue Heimat, sondern ein Transitland, dessen politische Elite in den Augen der meisten Mitschuld an ihrem Flüchtlingsdasein trägt.

Die ersten Flüchtlinge aus Haiti kamen kurz nach der Machtübernahme durch François Duvalier, genannt „Papa Doc“, im Jahre 1957 in die USA. Es waren Ärzte, Journalisten, Lehrer, Anwälte – kurzum: die akademische Opposition des Landes, die vom Diktator ins Ausland getrieben wurde. Dessen Sturz war in den Augen der Exilanten nur eine Frage der Zeit – und manche investierten Teile ihres Vermögens in zahlreiche Putsch- und Invasionsversuche. Im Gegensatz zu ähnlichen Aktivitäten von Exilkubanern gegen Fidel Castro blieb ihnen die Unterstützung der USA im allgemeinen und der CIA im besonderen versagt.

„Papa Doc“, und sein Sohn und Nachfolger Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier, paßten ins amerikanische Konzept eines politisch und wirtschaftlich „stabilen Hinterhofs“. Das Terrorsystem der Duvaliers und ihrer Todesschwadronen, der „Tonton Macoute“, gab keinerlei Anlaß zur Beunruhigung, solange es nicht übermäßig viele Flüchtlinge produzierte. Die kamen bis Anfang der siebziger Jahre per Flugzeug in überschaubaren Zahlen, brachten meist ein gewisses Privatvermögen und eine Berufsausbildung mit, die auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt gerade gefragt war.

Im Dezember 1972 registrierte die US-Küstenwache erstmals ein Flüchtlingsboot aus Haiti vor der Küste Miamis. Nach herrschender Definition waren dessen Insassen die ersten „Boat People“. Florence widerspricht dieser Version: die ersten haitianischen „Boat People“, sagt sie, seien 1776 in Amerika an Land gegangen. Die Passagiere waren befreite Sklaven, die sich freiwillig auf Seiten der Amerikaner im Unabhängigkeitskrieg gegen England gemeldet hatten.

Besonders dankbar haben sich die Amerikaner in den folgenden Jahrhunderten nie gezeigt. Im Gegensatz zur amerikanischen Unabhängigkeit ging die Befreiung der Haitianer vom Kolonialismus im Jahre 1804 auch mit der Abschaffung der Sklaverei einher, was aus Sicht amerikanischer Weißer Anfang des 19. Jahrhunderts zu gefährlichen Nachahmungseffekten auf ihren Sklavenplantagen hätte führen können. Es dauerte folglich fast 60 Jahre, bis die USA die Unabhängigkeit des Karibikstaates anerkannten.

In amerikanischen Geschichtsbüchern sucht man nach solchen Details vergebens, doch in den haitianischen Exilgemeinden kennt fast jeder diese Daten auswendig. Der Stolz auf den erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg ist eines der wenigen Merkmale, das Haitianer über Klassen- und Rassenschranken hinweg eint.

Die politische wie soziale Zerrissenheit der Gesellschaft in der Heimat hat auch die Exilgemeinde nachhaltig geprägt. Als im Winter 1972 die besagten Bootsflüchtlinge umgehend in Abschiebehaft genommen wurden, da protestierten zwar amerikanische Kirchenvertreter, doch in der haitianischen Exilgemeinde in Miami oder an der Upper Westside in Manhattan regte sich keine Stimme. Man hatte sich alle Mühe gegeben, im vermeintlichen Schmelztiegel USA nicht mit schwarzen Amerikanern in einen Topf geworfen zu werden. Nun wollte man um nichts in der Welt mit jenen Landsleuten zu tun haben, die da mit dunklerer Hautfarbe und zerlumpten Kleidern an der Küste Miamis aufgetaucht waren. Die Exilanten und Emigranten der sechziger und siebziger Jahre, sagt Jocelyn McCalla, Direktor der „National Coalition For Haitian Refugees“ in New York, „hielten es für selbstverständlich, sich Schwarzen überlegen zu fühlen.“

Erst die zweite Generation von Flüchtlingen, die Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre in die USA kamen, veränderten das soziale Gefüge der haitianischen „Diaspora“: Kreolisch, nicht mehr das elitäre Französisch, wurde in haitianischen Nachbarschaften wie Miamis „Little Haiti“ und in Brooklyns Stadtteil Flatbush zur bestimmenden Sprache; das Radio, nicht mehr die Zeitung, wurde zum bestimmenden Kommunikationmittel, das auch die wachsende Zahl der Analphabeten in der Exilgemeinde miteinbezog.

Was im November 1990 Jean- Bertrand Aristide in Haiti gelang – nämlich die Mehrheit der Haitianer in einer Volksbewegung hinter sich zu vereinen – das schaffte ein halbes Jahr zuvor die „Food and Drug Administration“ (FDA) in den USA. Die FDA, hauptsächlich für die Zulassung von Medikamenten und die nach oben offenen Schadstoffgrenzen von Fast Food zuständig, erklärte im April 1990 alle in Haiti geborenen Immigranten zur AIDS-Risikogruppe – und schloß sie damit als Blutspender aus. Der Erlaß war kaum veröffentlicht, da sammelte Florence Bonhomme Comeau ihre gesamte Verwandtschaft ein, „mindestens zwanzig Nichten, Neffen, Schwestern, Cousins undsoweiter“, um zur angemeldeten Protestdemonstration im Brooklyner Prospect Park zu gehen. Es war ein Werktag, und niemand, auch nicht die New Yorker Polizei, rechnete mit mehr als den üblichen 500 Demonstranten, die sonst bei solchen Veranstaltungen aufkreuzen. Kurz vor neun Uhr drängten sich bereits 10.000 Menschen am Ausgangsort – und die Menge wurde immer größer. Tausende von Haitianern waren über Nacht in Bussen aus Montreal, Miami, Boston und Chicago angereist.

Ein paar Stunden später setzte sich der Zug in Bewegung. Die Brooklyn Bridge, an den New Yorker Berufsverkehr, nicht aber an Demonstrationen gewöhnt, geriet in Schwingungen, als 100.000 Menschen Richtung Manhattan marschierten. Inmitten der Menge lief Florence mit ihren 20 Anverwandten im Schlepptau – und heulte vor Ergriffenheit. „Das war das erste Mal, daß wir begriffen haben, wie viele wir über die Jahre geworden sind.“ Das begriffen an diesem Tag auch alle anderen New Yorker. Die Brücke war für Autos gesperrt, Hunderte von Geschäften und Büros in Brooklyn blieben geschlossen. Manhattan, das sich für den wichtigsten Stadtteil hält, war bis in die Abendstunden lahmgelegt. Ein paar Wochen später zog die FDA ihren Erlaß zurück.

Ein paar Monate nach ihrem ersten politischen Erfolg in den USA erlebte die bis dato zersplitterte Exilgemeinde gar eine Namensgebung. Jean-Bertrand Aristide, der sich in Haiti auf den Wahlkampf vorbereitete, erklärte die mittlerweile 1.5 Millionen Auslandshaitianer in Anlehnung an die Aufteilung Haitis in neun Verwaltungsregionen zum „dixième département“. Aus diesem „zehnten Département“ kam ein Großteil seiner Wahlkampfspenden.

In diesem „zehnten Département“ saß am Abend des 30. September 1991 Florence Bonhomme Comeau mit Freunden in ihrer Brooklyner Wohnung, um weitere Spendenaktionen für den Wiederaufbau des Landes zu organisieren und Pläne für die Rückkehr in die Heimat zu schmieden. Dann klingelte das Telefon, ein befreundeter Journalist meldete sich mit den Worten: „Irgendetwas ist passiert in Haiti.“ Florence verbrachte die Nacht am Telefon, um Freunde und Verwandte in Port-au-Prince zu erreichen. Am nächsten Morgen stand fest: Das Militär hatte geputscht, Aristide war gestürzt. Noch einmal demonstrierte das „zehnte Département“ und mobilisierte am 11. Oktober über 60.000 Demonstranten zu einer Kundgebung in Manhattan gegen die Putschisten und die Bush-Regierung. Ohne deren Unterstützung oder Duldung wäre der Militärcoup nach Überzeugung der meisten Demonstranten nicht vonstatten gegangen.

Zwar hatte Außenminister James Baker die Militärjunta um Generalleutnant Raoul Cedras zwei Tage nach dem Putsch wortgewaltig zum „Paria ohne Freunde, Unterstützung und Zukunft“ erklärt. Doch bereits zwei Wochen später begann die öffentliche Demontage von Präsident Aristide, dem vorgeworfen wurde, mit Hilfe des „Mobs“ regiert und sich zahlreicher Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht zu haben. Die Beweise blieb man schuldig.

Ein Blick in die Protokolle des US-Handelsministeriums und der „US Agency For International Development“ (USAID) deutet eher auf Verletzungen amerikanischer Interessen hin. In den achtziger Jahren war Haiti von beiden Institutionen zum Billigstlohnland für US-Firmen auserkoren worden, die ihre Produkte in Akkordarbeit herstellen lassen. Für Tageslöhne von umgerechnet 1,50 Dollar fanden Tausende von Haitianern Jobs in amerikanischen Niederlassungen, wo sie im Akkord Sportartikel, Textilien und Elektrogeräte herstellten. Als Aristide unmittelbar nach Amtsantritt ankündigte, den Mindestlohn auf 75 Cent pro Stunde zu erhöhen und die Gesetze zur Abgabe an die Sozialversicherung tatsächlich durchzusetzen, da warnte USAID die neue Regierung in Port-au-Prince, das „Lohnsystem nicht zur Grundlage von Wohlfahrts-und Sozialprogrammen zu machen“.

Präsident Bush selbst ließ sich bis zum 5. November Zeit, um dem von der UNO und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) verhängten Ölembargo gegen Haiti beizutreten. Das Embargo war eine Farce; Öltanker löschten ungehindert ihre Ladung im Hafen von Port-au-Prince; die Landstraßen zur Dominikanischen Republik ließen die Putschisten eigens neu teeren, um den Warennachschub rollen zu lassen. Kurz vor seinem Abtritt nahm Bush amerikanische Investoren in Haiti offiziell von den Embargobeschränkungen aus.

Vor diesem düsteren Szenario nahm sich im US-Präsidentschaftswahlkampf Bill Clinton wie ein Rettungsengel aus. Der Demokrat versprach mit Verve, die haitianischen Boat people nicht wie seine Vorgänger Reagan und Bush als Wirtschaftsflüchtlinge abzuschieben, sondern als politisch Verfolgte anzuerkennen, und sich mit Nachdruck für die Rückkehr Aristides in sein Amt einzusetzen. Wer immer unter den Exil-Haitianern die US-Staatsbürgerschaft hatte und nicht zur kleinen Minderheit der Putschanhänger gehörte, wählte am 4. November 1992 Bill Clinton. Insgesamt gaben ihm rund 300.000 „Haitian Americans“ ihre Stimme.

„Wir haben ihm damals geglaubt“, sagt Jocelyn McCalla, der noch vor der Vereidigung des neuen Präsidenten mit dem Clinton-Team eine neue Haiti-Politik ausgehandelt hatte. Zwei Wochen später machte der Demokrat, eingeschüchtert von hysterischen Presseberichten und dubiosen Zahlen aus dem US-Außenministerium über eine bevorstehende „Flüchtlingswelle“, eine Kehrtwende und setzte die völkerrechtswidrige Abschiebepolitik seiner republikanischen Amtsvorgänger fort.

Von da an nahm die Haiti-Politik der Clinton-Administration einen höchst kläglichen Zickzackkurs an. Streckenweise versuchten das Pentagon, das Außenministerium und die CIA ganz unverhohlen, Jean-Bertrand Aristide als „antiamerikanisch“, „psychisch gestört“ oder „unberechenbar“ zu denunzieren.

Daß Bill Clinton nun erneut den Kurs gewechselt hat und den Putschisten säbelrasselnd mit militärischer Intervention droht, hebt sein Ansehen in der haitianischen Exilgemeinde um keinen Deut. Es kursieren diverse Verschwörungstheorien: Die einen glauben, die USA wollten hinter den Kulissen mit Hilfe des Vatikans Cedras an der Macht halten; die anderen halten eine US-Militärintervention für eine Wiederauflage der Okkupation des Landes durch US-Marines zwischen 1915 und 1934 – mit nur einem Ziel: die oppositionelle Volksbewegung zu unterminieren und wahre Reformen zu verhindern. Zu ersteren gehört auch Florence Bonhomme Comeau. „Wenn die USA Cedras wirklich loswerden wollten“, sagt sie in Anspielung auf frühere Machtwechsel unter US-Aufsicht, „dann würde ein Telefonanruf genügen.“

Jocelyn McCalla, mit den Entscheidungsprozessen der Administration etwas vertrauter, glaubt, daß es Washington dieses Mal ernst ist. Erstens, sagt er, stehe der letzte Rest von Bill Clintons Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. „Zweitens haben die USA in Haiti heute vor allem ein Interesse: Sie wollen eine Regierung an der Macht sehen, die den Flüchtlings- und Migrationsfluß stoppt.“ Das, so glaubt er, könne auf Dauer nur einer: Aristide.

Vorerst heißt die Devise in den haitianischen Communities in Miami, Boston oder New York: Warten, hoffen und Träume begraben. Warten auf die Rückkehr Aristides. Hoffen, daß Verwandte und Freunde im Untergrund die Zeit bis dahin überleben. Streiten über den Sinn einer Militärintervention, über die Rolle der UNO, über die taktischen Fehler Aristides. Träume? Florence Bonhomme Comeau ist jetzt 38 Jahre alt und Mutter dreier in den USA geborener Kinder. Sie hat sich immer gewünscht, daß wenigstens eines in Haiti zur Welt kommt.