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Ein polnisches Trauma

Vor fünfzig Jahren, am 1. August 1944, löste die Armia Krajowa den Warschauer Aufstand aus. Über seine Bedeutung wird in Polen bis heute heftig gestritten. In Deutschland hingegen verwechseln ihn viele noch immer mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto.

Der Warschauer Aufstand war von Anfang an umstritten und ist es bis heute noch. Das Oberkommando der polnischen Streitkräfte in London war gegen die Ausrufung gewesen. Dort schätzte man die Erwartung der Heimatarmee, daß die am östlichen Weichselufer stehenden Einheiten der Roten Armee den Aufständischen zu Hilfe kommen würden, sehr skeptisch ein. Bis auf einige mißlungene Landungsversuche der auf Sowjetseite kämpfenden polnische Einheiten – bei denen fast 4.000 Soldaten fielen – blieb die Rote Armee tatsächlich passiv. Stalin hatte ihr den weiteren Vormarsch verboten. Auch untersagte er den Westalliierten, sowjetische Flugplätze für Hilfsflüge zu nutzen.

Die Warschauer Heimatarmee hatte am 1. August 1944 den Aufstand ausgelöst, um die nur einige Kilometer entfernt liegende Rote Armee als Hausherrn in der selbstbefreiten Hauptstadt empfangen zu können. Genau dies aber wollte Stalin vermeiden: Denn würden die Deutschen den antikommunistischen Widerstand der Heimatarmee und der Bevölkerung brechen, hätte er es um so leichter, die von ihm eingesetzte kommunistische Marionettenregierung zu installieren.

Die kommunistische Propaganda fiel denn auch unerbittlich über den Aufstand her: Unverantwortlich, abenteuerlich, dilettantisch, ein antisowjetisches Abenteuer. Die Tatsache, daß die Rote Armee Gewehr bei Fuß gestanden hatte, während SS und Wehrmacht Warschau dem Erdboden gleichmachten, wurde verschwiegen. Ebenfalls die Tatsache, daß kommunistische Partisanen und sowjetische Propagandasender zuvor selbst zum Aufstand aufgerufen hatten. Das sowjetische Gemetzel in Katyn an polnischen Offizieren, die Grausamkeiten der späteren Kämpfe mit den Deutschen, die Niederlage und die Attacken der kommunistischen Propaganda nach dem Krieg, all dies führte dazu, daß der Warschauer Aufstand zu dem am meisten mythologisierten Ereignis der polnischen Geschichte wurde.

Die Tatsache, daß selbst antikommunistische Historiker zu dem Schluß kamen, daß die Ausrufung des Aufstands verantwortungslos gewesen sei und die Polen dadurch zwei Niederlagen, eine militärische und eine politische, erlitten, geriet in den Hintergrund. Das Ereignis ging in die Mythentradition der polnischen Aufstände des 18. und 19. Jahrhunderts ein, und in der Publizistik wurde er wie diese in einen „moralischen Sieg“ umgemünzt. Jegliche Kritik wurde als Attacke auf das polnische Nationalbewußtsein interpretiert. 1989 druckte selbst das Parteiorgan Trybuna Ludu einen Artikel, in dem der Aufstand damit gerechtfertigt wurde, „das Volk Warschaus habe diesen Kampf gewollt“. Und angesichts der Rache- und Kampfeslust habe er sich nicht verhindern lassen.

Daß die Debatte um den Warschauer Aufstand auch fünfzig Jahre danach nicht ohne Emotionen geführt werden kann, zeigte sich im Frühjahr 94. Michal Cichy, Kulturredakteur der Gazeta Wyborcza, erwähnte in einer Buchrezension beiläufig, daß während des Aufstandes die Heimatarmee „die Reste der überlebenden Juden niedergemacht“ habe. Eine Leserbriefflut ging über der Zeitung nieder. Cichy zog los und recherchierte nach. Seine Behauptung mußte er zwar wieder zurückziehen, doch was er zutage förderte, führte dennoch zu einer wochenlangen hitzigen Diskussion. Nur in einem Fall gelang es dem Redakteur, zu beweisen, daß eine Einheit der Heimatarmee – an deren Spitze ein antisemitischer Vorkriegskrimineller stand – in den Wirren des Aufstands ungefähr ein Dutzend Juden ermordet hatte. Da aber dessen Räuberbande auch 56 deutsche Zivilisten und polnische Landsleute auf dem Gewissen haben soll, ließ sich das schwer unter Antisemitismus einordnen.

Auf die Debatte in der Gazeta Wyborcza, die in den meisten anderen Zeitungen gar nicht erwähnt wurde, reagierten Kombattantenorganisationen, Bürger, Rechtsparteien und sogar Antisemiten hochempört. Die Behauptungen Cichys, so häufig die überraschende Begründung, würden die polnisch-jüdische Versöhnung stören, gar gefährliche Konflikte zwischen Polen und Juden auslösen können. Und international würde das falsche Bild des Warschauer Aufstands als Propaganda gegen Polen und die Polen überhaupt mißbraucht werden. „Ein solches Bild kann auch jenen Gruppen in Deutschland zugute kommen, die die deutsche Verantwortung für die Vernichtung der Juden, Polen und anderer Nationalitäten in den Jahren 1939–45 verwischen wollen“, hieß es in einem von vielen hundert Bürgern, Veteranen und Politikern unterschriebenen Protestschreiben. Andere fanden, die von Cichy berührte Problematik sei so schmerzlich für die jüdische und die polnische Seite, daß man damit äußerst vorsichtig umgehen sollte: „Dabei dürfen nur rationale Argumente Verwendung finden, und alles muß genauestens bewiesen sein. Sonst ist es besser, überhaupt nichts zu schreiben.“

Zwar behauptete Cichy, daß antisemitische Übergriffe „marginale Erscheinungen“ gewesen seien und keinesfalls das Wesen des Warschauer Aufstandes ausgemacht hätten, doch die Debatte um diese „marginale Erscheinung“ wuchs sich schnell aus zu einer anderen, die in Polen schon seit Mitte der achtziger Jahre andauert: nämlich ob die polnische Bevölkerung und die Heimatarmee den von den Deutschen verfolgten Juden während der gesamten Besatzungszeit in ausreichendem Maße geholfen hätten und welche Bedeutung polnischen Kollaborateuren beim Holocaust generell zukomme. Doch weil es jetzt um den Warschauer Aufstand ging, verlief diese Debatte entschieden emotionaler als in all den Jahren zuvor.

Nach Ansicht vieler Historiker bedeutete der Warschauer Aufstand den endgültigen Schlußpunkt unter Polens Zwischenkriegsrepublik. Der Großteil des Warschauer Bürgertums und der Intelligenz lag verblutet unter den Trümmern der Millionenstadt. Denn am Aufstand hatten sich besonders das Bürgertum und die Intelligenz beteiligt. Durch diese Kämpfe 1944 und die Massenhinrichtungen der Sowjets im Wald von Katyn im Jahre 1940 war ein großer Teil der Vorkriegselite ausgelöscht worden. Vor dem Krieg galt Warschau als das „Paris des Ostens“, war eine weltoffene Stadt, deren Bevölkerung nach Westen orientiert und häufig mehrsprachig war. Nach Schätzungen polnischer Historiker wurden 200.000 Menschen während des Aufstandes getötet und zwischen 350.000 und 500.000 nach dem Aufstand deportiert.

Viele kehrten nie mehr nach Warschau zurück. Sie lebten nicht mehr oder zogen später in andere Regionen von Polen. Statt des hauptstadtgewohnten Bürgertums zogen nach dem Krieg viele Angehörige der ländlichen Schichten nach Warschau. Um den eigentlichen Stadtkern entstanden riesige Schlafstädte. Zwar wurde nach dem Krieg die zerstörte Altstadt wieder rekonstruiert, doch dazu kamen zahlreiche Beispiele sozrealistischer Architektur, die den Charakter der Stadt veränderten.

Nicht wiederaufgebaut wurde auch das jüdische Viertel in der Innenstadt. Auf diesem Terrain steht heute der stalinistische Kulturpalast; das neue Wahrzeichen Warschaus. Atmosphärisch und architektonisch hat das heutige Warschau mit der polnischen Hauptstadt der Zwischenkriegszeit fast nichts mehr gemein.

Aber vergessen hat das alte, glänzende Warschau und seinen katastrophalen Untergang in Polen niemand. Heute befindet sich fast in jeder Warschauer Straße ein kleines Mahnmal mit Hinweistafel und Blumenschale zur Erinnerung an jede einzelne Geiselerschießung, an jedes umkämpfte Gebäude und die dabei Gefallenen. Fast immer stecken frische Blumen in den Schalen, und obwohl bereits fünfzig Jahre vergangen sind, entstehen immer noch neue Denkmäler. Klaus Bachmann

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